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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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Arten beweisen vielmehr, dass beide alternative Phänotypen desselben Genotyps sind. Anders gesagt, bei Königin und Arbeiterinnen werden Kaste und Arbeitsteilung von identischen Genen vorgegeben, obwohl gleichzeitig andere Gene durchaus stark variieren. Dieser Umstand untermauert die Vorstellung, dass sich die Kolonie als individueller Organismus betrachten lässt oder, genauer, als individueller Superorganismus. In der Frage des Sozialverhaltens vollzieht sich die Vererbung von Königin zu Königin, die Arbeiter sind jeweils nur ihre Extension.[ 52 ] Es kommt weiterhin zur Gruppenselektion, aber sie vollzieht sich an den Merkmalen der Königin und an der extrasomatischen Projektion ihres persönlichen Genoms.[ 53 ] Dieses Verständnis wirft eine neue Form theoretischer Untersuchungen auf, außerdem Fragen, die sich nur durch neue Ansätze empirischer Forschung entscheiden lassen.
    In der vierten Phase werden diejenigen Umweltkräfte identifiziert, die die Gruppenselektion vorantreiben – folgerichtig ein Thema für kombinierte Untersuchungen der Populationsgenetik und der Verhaltensökologie. In diesem Gebiet werden nur zögerlich die ersten Forschungsprogramme ausgeschrieben, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass den Selektionskräften der Umwelt, die die frühe eusoziale Evolution bewirken, nur ein vergleichsweise geringes Augenmerk gilt. Die Naturgeschichte der primitiven eusozialen Tiere und besonders die Struktur ihrer Nester sowie der Umstand, dass sie erbittert verteidigt werden, legen nahe, dass die Verteidigung gegen Feinde (Parasiten, Fressfeinde und rivalisierende Kolonien) ein Schlüsselelement im Aufkommen der Eusozialität ist. Um diese und möglicherweise konkurrierende Hypothesen zu prüfen, wurden aber bisher nur wenige Feld- und Laborstudien ausgewiesen.
    In der fünften und letzten Phase werden bei den fortgeschritteneren eusozialen Arten durch Gruppenselektion (zwischen Kolonien) Lebenszyklus und Kastensystem geformt. Viele Evolutionslinien haben dabei sehr spezialisierte, ausgefeilte soziale Systeme entwickelt. Vorreiter bei diesen Systemen ist nicht der Mensch, sondern sind die Insekten, insbesondere die auf der fortgeschrittensten Ebene – Honigbienen, stachellose Bienen, Blattschneiderameisen, Weberameisen, Heeresameisen und hügelbauende Termiten.
    Knapp zusammengefasst, muss eine vollständige Theorie der eusozialen Evolution aus einer Folge von experimentell überprüften Stadien bestehen, von denen folgende bereits klar identifiziert sind:
    1. Gruppenbildung.
    2. Das Auftreten einer minimalen, notwendigen Kombination präadaptiver Merkmale in den Gruppen, die die Gruppenkohäsion erheblich stärken. Zumindest bei Tieren gehört dazu ein wertvolles, verteidigenswertes Nest. Die Nest-Bedingung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass primitiv eusoziale Gruppen Familien sind – Eltern und Nachwuchs bei Insekten und anderen Wirbellosen, erweiterte Familien bei Wirbeltieren.
    3. Das Auftreten von Mutationen, die die Beständigkeit der Gruppe vorgeben, am wahrscheinlichsten durch das Abschalten von Verhaltensstreuungen. Ganz offensichtlich bleibt ein dauerhaftes Nest der Schlüsselfaktor bei der Erhaltung der Prävalenz. Primitive Eusozialität kann in unmittelbarer Folge «sprungbereiter» Präadaptionen auftreten, die sich in früheren Stadien entwickelt haben und per Zufall Gruppen dazu veranlassen, sich eusozial zu verhalten.
    4. Bei Insekten werden durch Gruppenselektion unter dem Einfluss von Umweltkräften emergente Merkmale herausgeformt, die entweder durch das Vorhandensein roboterartiger Arbeiterinnen oder durch das Zusammenspiel der Gruppenmitglieder entstehen.
    5. Gruppenselektion bewirkt häufig extrem bizarre Veränderungen im Lebenszyklus und den Sozialstrukturen der Insektenkolonie, so dass differenzierte Superorganismen entstehen.
    Da die beiden letzten Schritte nur bei Insekten und anderen Wirbellosen vollzogen wurden, stellt sich die Frage, wie die Spezies Mensch ihre einzigartige, auf der Kultur fußende soziale Lebensform erreicht hat. Welchen Stempel hat der aus Kultur und Genetik kombinierte Prozess der menschlichen Natur aufgeprägt? Oder anders gesagt, was sind wir?

V.
WAS SIND WIR?

20.
WAS IST DIE NATUR DES MENSCHEN?
    In einem sind sich alle einig: Eine klare Definition der menschlichen Natur ist der Schlüssel zum Verständnis der Conditio humana insgesamt. Doch die Formulierung dieser Definition gestaltet sich außerordentlich schwierig. Sichtbar ist die

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