Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Sozialverhalten. Dessen eigentliche Ursache ist der Vorteil eines verteidigenswerten Nestes, insbesondere wenn es aufwändig zu bauen ist und in Reichweite einer nachhaltigen Futterquelle liegt. Aufgrund dieser Vorbedingung bei den Insekten ist enge genetische Verwandtschaft bei der primitiven Koloniegründung die Folge und nicht die Ursache eusozialen Verhaltens.
Das zweite Stadium ist die zufällige Häufung anderer Merkmale, die den Übergang zur Eusozialität immer wahrscheinlicher machen. Am wichtigsten ist dabei eine fürsorgliche Pflege der im Nest heranwachsenden Brut – die Jungen werden progressiv befüttert, die Brutkammern werden gereinigt oder bewacht, womöglich eine Kombination der drei Faktoren. Wie zum Bau eines verteidigenswerten Nests durch den solitären Vorfahren kommt es zu diesen Präadaptionen durch Individualselektion; dass sie später beim Aufkommen der Eusozialität eine Rolle spielen werden, ist nicht geplant (die Evolution durch natürliche Selektion kann die Zukunft nicht prognostizieren). Die Präadaptionen sind Produkte der adaptiven Radiation, in deren Verlauf sich Arten auffächern und ökologisch unterschiedliche Nischen besetzen. Je nachdem, auf welche Nischen sie sich spezialisieren, ist es für einige Arten mehr oder weniger wahrscheinlich, dass sie Präadaptionen mit hohem Potenzial erwerben. Einige Arten etwa leben per Zufall in Lebensräumen ohne viele Fressfeinde. Da die Notwendigkeit, die Brut zu beschützen, hier weniger drängend ist, werden sie wahrscheinlich in ihrer sozialen Evolution stabil bleiben oder sich ganz in Richtung einer solitären Lebensform entwickeln. Andere Arten sind in ihrem Lebensraum dagegen ständig gefährlichen Feinden ausgesetzt – sie werden sich stärker der Schwelle zur Eusozialität annähern und diese auch wahrscheinlicher überschreiten. Die Theorie dieses Stadiums ist die Theorie der adaptiven Radiation, die unabhängig von den Untersuchungen zur Eusozialität schon umfassend formuliert wurde.
Der dritte Evolutionsschritt hin zum fortgeschrittenen Sozialverhalten ist die Entstehung eusozialer Allele, entweder durch Mutation oder durch Immigration mutierter Individuen von außen. Zumindest bei präadaptierten Hautflüglern (Bienen und Wespen) kann dieses Ereignis auch als Punktmutation auftreten. Außerdem muss die Mutation nicht unbedingt den Aufbau eines neuen Verhaltens vorschreiben. Sie kann auch einfach alte Verhaltensformen abschalten. Um die Schwelle zur Eusozialität zu überschreiten, müssen nur ein Weibchen und seine erwachsenen Nachkommen sich nicht verstreuen, um neue, individuelle Nester zu gründen, sondern im alten Nest verbleiben. Wenn an diesem Punkt der umweltbedingte Selektionsdruck stark genug ist, fangen die «sprungbereiten» Präadaptionen an zu wirken, und die Gruppenmitglieder beginnen das Zusammenspiel, das sie zu einer eusozialen Kolonie macht.
Bisher wurden eusoziale Gene noch nicht identifiziert, aber wir kennen mindestens zwei andere Gene oder kleine Gengruppen, die größere Veränderungen an sozialen Merkmalen steuern, indem sie Mutationen an präexistierenden Merkmalen abschalten. Diese Beispiele lassen auf Fortschritte sowohl in der Theorie als auch in der Genanalyse hoffen; zugleich bringen sie uns zur vierten Phase in der Evolution der Eusozialität bei Tieren. Sobald die verwandten und untergeordneten Nachkommen im Nest verbleiben wie bei primitiv sozialen Bienen- oder Wespenfamilien, kommt es zur Gruppenselektion; diese zielt ausnahmslos auf die emergenten Merkmale, die sich aus dem Zusammenspiel der Koloniemitglieder ergeben. Die Selektionskräfte führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Herausbildung eines Warnsystems über Alarmrufe oder chemische Signale. Es kommt zur Entwicklung von Körpergerüchen, um die eigene von fremden Kolonien zu unterscheiden. Wahrscheinlich werden Möglichkeiten erfunden, Nestgefährten zu neu entdecktem Futter zu führen. Und zumindest in den fortgeschritteneren Stadien kommt es zwischen den reproduktiven Königinnen und der dienenden Arbeiterkaste zur Evolution von Unterschieden in Anatomie und Verhalten.
Betrachtet man die emergenten Merkmale, an denen die Gruppenselektion greift, so ist eine neue Form der theoretischen Forschung vorstellbar. Hervorgehoben wurde etwa kürzlich das Phänomen, dass die unterschiedlichen Rollen der reproduktiven Eltern und ihres nicht reproduktiven Nachwuchses nicht genetisch bedingt sind. Forschungsergebnisse an primitiv eusozialen
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