Die spaete Ernte des Henry Cage
Auftakt zu einem Geburtstag gegeben?
Die Vaterschaft hat Tom verunsichert. Er kann nicht länger so tun, als ob Henry nicht existieren würde. Hals Kindheit, die sich vor Toms Augen abspielt, weckt bei ihm Erinnerungen an die eigene Kindheit. Und diese Erinnerungen dämpfen seine Wut. Tom ist entschlossen, seinem Vater so unähnlich wie nur möglich zu werden; ruhig zu sein, wo Henry gereizt war, dazusein, wo Henrymeist abwesend war; nachsichtig, wo Henry sehr oft der pedantische Perfektionist war. Doch damit endet die Listeauch schon. Tom kann nicht so tun, als wäre Henry in der Vergangenheit nicht auch liebevoll gewesen. Es hat auch glückliche Tage gegeben. Er erinnert sich an ein gemietetes Haus am sechs Meilen langen Strand in Hilton Head, South Carolina. Die morgendlichen Spaziergänge – Henry, Nessa und Tom, eingehakt, wie sie den Wellen nachjagen und zwischen ihren Füßen die Strandläufer umhereilen.
Die Erinnerungen stimmen ihn milde. Eines Tages (jetzt noch nicht) wird er Henry erzählen, dass er einen Enkelsohn hat.
Es ist einer jener Vormittage, an denen die globale Erwärmung eher verführerisch denn katastrophal wirkt. Es ist so mild, dass sie vor dem Mittagessen im Haus von Janes Eltern am Strand spazieren gehen können. Sie fahren nach Holkham und gehen die Lieder durch, die Hal für das Weihnachtskonzert der Spielgruppe lernt. Er besteht darauf, dass die einzelnen Zeilen abwechselnd »laut und leise« gesungen werden, so, wie Miss Martha es gern möchte. Nach dem langen Weg bis zu den Wellen und dem scheinbar noch längeren Weg zurück lassen sie sich in den Dünen nieder; Hal kommt nicht weiter als »Heute kommt der Weihnachtsmann …«, da schläft er schon in Janes Armen ein.
Jane ist achtundzwanzig, eine große Frau mit einer leicht gebeugten Haltung, manchmal hübsch, mit haselbraunenAugen und dunkelblonden Haaren. Wenn sie zuhört, lehnt sie sich etwas nach vorn. Ihre Zähne sind klein und verleihen ihrem Gesicht eine attraktive (und trügerische) Unschuld. Jane ist eine von vier Töchtern eines Tierarztes aus Norfolk und seiner Frau; sie mag Tiere zwar nicht besonders (ihre Kindheitskonkurrenten um die Zeit und Aufmerksamkeit des Vaters), aber in Tom hat sie ihren Ersatzhund gefunden.
Als er über die Düne kommt, die Hände voller Muscheln für Hal, steht sie auf.
»Ich wollte dir den Tag nicht verderben«, sagt sie und reicht ihm einen Briefumschlag. »Heute Morgen ist ein Brief gekommen, von Nessa. Ich fürchte, es geht ihr schlechter.«
3.
Henrys Papiermesser war das Abschiedsgeschenk eines dankbaren Kunden. Auf der silbernen Klinge stand: »Möge ich nur gute Nachrichten öffnen.« Im Gegenzug benutzte Henry das Messer nur, wenn er mit Ärger rechnete. Er benutzte das Messer bei allen Umschlägen mit Sichtfenster, bei der Post vom Finanzamt, bei den steifen weißen Umschlägen von seinem Anwalt und nun bei diesem unerwarteten Brief von seiner Ex-Frau.
Nessas Handschrift war voller Lebensfreude, wie alles an ihr. Schwungvoll, mit viel Tinte, flog sie über das Blatt, die Buchstaben purzelten fast übereinander in ihrem Eifer. Diese Überschwänglichkeit kostete Platz, darum machte sie wenig Worte, so wie manch anderer beim Telefonieren. Henry hatte sich einmal sehr über eine Notiz von ihr gefreut, als sie beide auf einer trübseligen Konferenz in Übersee saßen: »Meine Tür steht offen und ich auch«, hatte sie geschrieben. Der aktuelle Brief war zwar weniger verführerisch, blieb aber ansonsten ihrem Stil treu.
Liebster Henry,
ich habe gelesen, dass Du mit achtundfünfzig aufgehört hast zu arbeiten. Das überrascht mich. Ich hatte Dich für einen der Lebenslänglichen gehalten. Komm mich in Florida besuchen – im April –, bleib, so lange Du magst. Ich möchte mit Dir reden.
Alles Liebe, Nessa
Der Brief ärgerte Henry – sein knapper Ton verschärfte den Schmerz, den er noch immer spürte. Es ärgerte ihn, dass Nessa annahm, sie würden einen ganz normalen gesellschaftlichen Umgang miteinander pflegen. Er antwortete ihr kurz angebunden, dass er noch nicht wisse, was er vorhabe, sich also noch nicht festlegen könne, und unterschrieb mit »Grüße, Henry« (»Alles Liebe« hatte er verworfen). Kleinkariert, wie er wusste.
Tatsächlich hatte Henry überhaupt keine Pläne. Er war ohne Fahrplan, Ticket oder Reisepass am Abflugschalter in den Ruhestand erschienen. In den Tagen nach dem Abschied huschte er vom Buch zum Klavier, vom Klavier zum Fenster. Er konnte
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