Die spaete Ernte des Henry Cage
geregelten Tagesablauf. Er wollte nachts schlafen und am Morgen aufwachen. Er beschloss, nur noch eine einzige Nacht wach zu bleiben. Am Nachmittag hatte die Müdigkeit seine Sinne beeinträchtigt, und er hatte sich in dem Glauben gewiegt, seine Sorgen seien vorüber, er habe sich geirrt, der Ärger sei Zufall gewesen und werde vorübergehen. Als er in jener Nacht am Fenster saß, war ihm fast schwindlig vor Erleichterung. Er hörte Radio, hatte die Ohrstecker beiseitegelegt, es sich im Sessel bequem gemacht und den Kopf an die weiche, ausreichend große Lehne gestützt. In dieser Position würde er sicher bald einschlafen, na und?
Er wachte vom Geräusch der Zeitungszustellung auf. Aber war es nicht zu früh? Irgendetwas stimmte nicht. Henrys Uhr hatte sich an seinem Handgelenk verdreht, er war verwirrt und suchte in den Falten des Sessels danach. Draußen war nur wenig Licht, und jemand klopfte an die Scheibe. Henry konnte weiße Fingerknöchel sehen, die ans Glas pochten, und den Ärmel eines schwarzen Ledermantels. Als er aufstand, hakte sein Knie, und bis er ansFenster kam, sah er nur noch, wie das Tor ins Schloss fiel. Er setzte sich wieder hin und nahm einen Schluck Kaffee direkt aus der Thermoskanne; dabei verbrannte er sich den Gaumen. Das Klappern des Briefschlitzes klang ihm wieder im Ohr. Der Mistkerl hatte etwas durch den Schlitz geworfen.
Er rechnete schon mit noch mehr Hundekot, einem Böller oder Schlimmerem, doch auf der Matte im Flur lag nur ein einfacher gelbbrauner Umschlag. Er hob ihn auf und nahm ihn mit in die Küche. Der Umschlag hatte ein gewöhnliches Format und fühlte sich leicht an. Mehr als ein paar Blatt Papier konnten nicht darin sein. Er versuchte, sich zu erinnern, was er über Briefbomben gelesen hatte. Eine Briefbombe müsste wohl dicker sein als dieser Umschlag, dachte er, eher wie ein Päckchen. Henry zog ein Messer aus der Schublade und schnitt den Umschlag auf. Drinnen steckte ein Blatt Papier, in das drei Polaroidfotos gewickelt waren, alles Variationen desselben Motivs. Henry erkannte das Mädchen sofort: die Freundin des Schlägertyps, nackt auf einem Bett, wie sie in die Linse grinst, Beine breit, mit der Hand öffnet sie ihre Schamlippen. Die beiden anderen Bilder waren Nahaufnahmen.
10.
Tom sah zu, wie Jane die vielen Tulpen einfach in eine Vase stopfte, ohne daran zu zweifeln, dass sie schon in die richtige Form fallen würden. Als Jane sich vorbeugte, mischte sich das Kornblond ihrer Haare mit den dichten grünen Scheiden der Tulpenblätter. Tom kam es so vor, als könne sie gar nicht anders, als sich mit Anmut zu bewegen.
»Ich glaube, ich sollte meinem Vater schreiben.«
Jane trat einen Schritt vom Tisch zurück und besah sich die Blumen. »Will Nessa das?«
»Sie hat ihn nach Florida eingeladen – wenn wir auch da sind.«
»Dann will sie es wohl.«
Mittags holte Tom Hal von der Schule ab. Sie nahmen den Marschweg hinter den Landhäusern, die die schmale Hauptstraße säumten. Schauten sie nach links, sahen sie die Rückseiten der Häuser – Schuppen und Nebengebäude, die sich zum Schutz eng an die Hintermauerndrückten. An dieser Küste wehte der Wind ungehindert vom Polarkreis herunter und fegte mit voller Wucht übers Land. Hier und dort lagen versteckt kleine Werften, nur erkennbar an der hohen Kabine eines Lastwagens oder dem Mast eines Dinghy, der über die Ziegel- und Flintsteinmauern ragte. Direkt an den Pfad grenzten die Gärten. Es standen noch ein paar Reihen Kohl, doch die meisten Beete waren bereits umgepflügt und winterfertig.
Die beiden drehten sich zur See und senkten die Köpfe, denn der Wind, der über das Marschland pfiff, war zu stark, um ihm entgegenzuschauen. Mit gesenkten Köpfen rannten sie um die Wette nach Hause; Tom achtete darauf, Hal gewinnen zu lassen, aber nur knapp.
Am Nachmittag nahm Jane Hal mit zum Haus ihrer Eltern. Ihr Vater hatte die Erlaubnis eingeholt, eine Reihevon Pappeln auf seinem Land zu fällen. Vor Jahren konnte man mit den Bäumen noch gutes Geld verdienen: Bryant & May nahmen das Holz ab, um daraus Streichhölzer zu machen. Doch diese Branche gab es nicht mehr, und das Holz wurde nur noch dazu verwendet, um daraus Paletten zu zimmern. Ein unrühmliches Ende dieser wundervollen Bäume, fand Jane. Als junges Mädchen hatte sie ihren Tag damit begonnen, die Pappeln von ihrem Fenster aus zu grüßen. Im Frühling waren die Blätter ganz hellgrün und säuselten in der kleinsten Brise. Mit zwölf hatte sie in
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