Die spaete Ernte des Henry Cage
manchmal eine Flasche – offen auf dem Boden neben sich.
Eines Nachts um drei hatte Jane sie vorgefunden, wiesie haufenweise Familienfotos vor sich ausgebreitet hatte. Ihre Beine zitterten so heftig, dass die Bilder nicht auf ihrem Schoß bleiben wollten.
»Verdammt, irgendwie kann ich die Beine nicht stillhalten. Du hast nicht vielleicht ein paar Bleischuhe?«
»Ist schon in Ordnung.«
Sie hatten sich fest umarmt.
»Was für ein Durcheinander. Ich vermisse ihn so sehr.« Jane hielt ihre Hand und wartete, bis das Schluchzen versiegte.
»Weißt du, als wir noch zusammen waren, habe ich mir häufig gewünscht, er wäre anders. Jetzt wünsche ich mir nur, dass er hier wäre.«
»Was meinst du mit ›anders‹?«
Nessa zog eine Handvoll Taschentücher aus der Tasche ihres Morgenmantels und drückte sie sich an die Augen.
»Sorgloser vielleicht. Jemand, der einem nicht andauernd das neueste Gesundheitsrisiko aus der Zeitung vorliest. Ich wollte einen lockeren, fröhlichen Mann, der nicht jedes Mal ein bisschen komisch guckt, wenn ich mir das dritte Glas Wein einschenke oder im Restaurant einen Schokoladennachtisch bestelle.«
»Henry war nie gut darin, sich mal etwas zu gönnen. Andauernd gab er irgendwas auf – Wein, Zucker, Koffein … und schließlich mich alte Kuh.«
»Du hast ihn dabei auch ein bisschen unterstützt«, betonte Jane.
»Das stimmt.« Nessa verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Schon bald atmete sie schwer; selbst im Schlaf bewegtensich ihre Beine zum jammervollen Schlag ihres Herzens.
Nessa war einen Monat bei ihnen geblieben. Als sie feststellte, dass man sie hier nicht erkannte, hatte sie angefangen, das Haus zu verlassen, erst um kleine Einkäufe zu erledigen, dann zu langen Spaziergängen durch Norwich. Sie nahm zu und gewann nach und nach wieder die Kontrolle über ihren Körper. Als die Examen vorüber waren, mieteten sie sich ein Auto und fuhren jeden Tag nach Norden an die Küste; dort, in den Dünen unter einem weiten blauen Himmel, hatten sie von Nessas Entschluss erfahren, in ihr Haus nach Florida zurückzukehren.
Lieber Dad,
Tom drückte elf Mal auf die Löschtaste und fegte den Bildschirm leer. Er hatte seinen Vater immer »Dad« genannt – nun kam ihm das zu liebevoll, zu verzeihend vor. Er fing wieder von vorn an. Er hatte sich entschieden, energisch zu sein.
Lieber Henry,
ich habe von deinem Ruhestand gelesen – herzlichen Glückwunsch, falls das nicht unangebracht ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Du Deine Tage ohne das Büro verbringst, aber ich habe mitbekommen, dass Du eine Weile bei Nessa sein wirst – deshalb schreibe ich Dir. Wir werden höchstwahrscheinlich zur selben Zeit dort sein, und ich dachte, es wäre
Nessa nicht ganz unangenehm, wenn wir uns davor zumindest mal getroffen haben. Möchtest Du an einem Wochenende zum Essen kommen? Wenn ja, melde Dich bitte.
Den Brief hatte er auf dem Geschäftspapier der Buchhandlung ausgedruckt und nur mit »Tom« unterschrieben. Es war bereits dunkel, als er hinausging, um den Brief zur Post zu bringen. Auf dem Heimweg erfasste Jane ihn mit ihren Scheinwerfern; sein riesiger Schatten tauchte an einer Hausfassade auf wie irgendein proletarischer Held in einem sowjetischen Wandgemälde. Ein Mann mit Brief in der Hand, der sich heroisch der Zukunft stellt.
11.
Mrs Abraham war noch eine weitere Woche fort, es war also ungefährlich, die Polaroids zwischen den Rechnungen im Toastständer herumliegen zu lassen. Henry sah sie sich drei- oder viermal am Tag an. Er wusste, sie waren ihm zugestellt worden, um ihn zu verhöhnen, ein prahlerischer Beweis für den Zugriff des jungen Mannes auf diesen Körper, von dem er annahm, dass auch Henry ihn begehrte. Eine abgedroschene, aber verständliche Mutmaßung des Schlägertyps.
Es ist der Sommer 1959. Henry steht mitten auf der Goldhawk Road, den Arm um die Taille seiner Freundin gelegt, als ein dunkelgrünes Cabrio, ein Jaguar XK150, neben ihnen hält. Der Fahrer wartet im Straßenverkehr, um nach links in die Lime Grove abzubiegen, damals Sitz der BBC Television.
Das Verdeck ist offen, Henry erkennt den Fahrer, einen Journalisten, der sich als Nachrichtenkorrespondent einenNamen gemacht hat. Henry bewundert den Wagen, als ihm auffällt, dass »Mr TV« eine andere Art von Karosserie taxiert. Sein Interesse an Henrys Freundin ist so schamlos, dass Henry ruft: »Vergiss es – dazu bist du viel zu alt.«
Sein Hohn geht im Straßenlärm unter. Der Moderator fährt in
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