Die spaete Ernte des Henry Cage
lächerlich das war.
Die erste Nacht schaffte er es, wach zu bleiben. Es hatte ihm sogar Spaß gemacht. Seine Straße war früher mal ein Schleichweg zwischen Fulham Road und Brompton Road gewesen, doch auf Drängen der einflussreichen Anwohnervereinigung hatten die Behörden eine Einbahnstraße daraus gemacht, und nun war sie nur noch für die Anwohner, Handwerker und Versorgungsunternehmen wichtig – und für (mindestens) einen Vandalen.
Gegen Mitternacht hatte sich das Kommen und Gehen gelegt, mit Ausnahme der unübersehbaren Wilkinsons. Die beiden kamen gegen halb zwei in ihrem Lexus 400 nach Hause – ein Wagen, der ihnen sehr ähnelte, vorn zu schwer, um elegant zu wirken. Sie hatten die Wagentüren mit angesäuselter Unbekümmertheit zugeworfen und sich dann auf dem Weg zur Haustür gegenseitig mit vor den Mund gelegten Fingern zischend zur Ruhe ermahnt.
Um zwei Uhr fünfundfünfzig war die Wolkendecke aufgebrochen, und Mondschein fiel glänzend auf die Ziegel des gegenüberliegenden Hauses. Mr Pendry hatte um vier Uhr fünfzehn das Bad aufgesucht, und kurz vor sechs, als ihn das
Today Programme
von den Belanglosigkeiten der Nachtmeldungen erlöste, lief eine schwarzeKatze anmutig an Henrys Gartenzaun entlang. Um sieben Uhr war er nach oben zu Bett gegangen, konnte aber nicht schlafen. Tageslicht drang durch die Vorhänge, und Henry bemerkte die einsetzenden Geräusche des Tages: das Klappern des Briefschlitzes, als die Zeitungen kamen, das Tuten eines rückwärtsfahrenden Kehrwagens, das Quietschen des Tores nebenan. Nach einer Stunde ging er nach unten, nahm sein Radio und schlief endlich zum Klang der Stimmen einer Londoner Anrufsendung ein.
Am Nachmittag kaufte er im Conran Shop eine Taschenlampe. Er hatte mal neben einer Frau im Royal Opera House gesessen, die die Noten zu
Tosca
aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegen hatte. Vor der Aufführung hatte sie sich an ihn gewandt und gesagt: »Ich habe eine Taschenlampe, die nicht seitlich abstrahlt. Ich glaube nicht, dass sie das Licht stören wird.« Sie hatte recht gehabt, und nun fand Henry, eine solche Lampe könnte nützlich sein; er könnte lesen oder schreiben, ohne sich im Fenster zu verraten. Noch besser war, dass er das Radio nicht anmachen musste.
Kurz nach Mitternacht setzte er sich wieder ans Fenster. Den Großteil des Abends hatte er in seinem Arbeitszimmer an der Rückseite des Hauses ferngesehen. Er hatte einen Anruf erhalten. Detective Sergeant Cummings wollte wissen, ob es etwas Neues gebe.
»Nein, es war alles ziemlich ruhig.«
»Keine Briefe mehr?«
»Nicht von ihm.«
»Ach, Sie glauben also, es handelt sich um einen Mann? Gibt es einen Grund dafür?«
Henry hatte sich zwar nicht geschickt, aber geistesgegenwärtig aus der Affäre gezogen.
»Tut mir leid, ich gehöre noch zu jener Generation, die automatisch davon ausgeht, dass alle Ärzte, Richter und Taxifahrer Männer sind. Und Verbrecher auch.«
Der Detective hatte kurz geschwiegen, bevor er etwas erwiderte.
»Na gut, Mr Cage, geben Sie mir Bescheid, wenn etwas passiert.«
Falls in dieser Nacht etwas passiert wäre, hätte Henry es nicht bemerkt. Er war kurz vor eins eingeschlafen. Um sieben war er wieder aufgewacht und nach draußen gegangen, um die Vorderseite des Hauses zu kontrollieren. Es schien alles in Ordnung zu sein. Drinnen inspizierte er jedes Zimmer, öffnete Schränke und Schubladen, musste sich vergewissern, dass er in Sicherheit war. Das erinnerte ihn an ein Ritual, das ihn im Internat von den anderen unterschieden hatte. Als heimwehkranker Achtjähriger war er erst ins Bett gegangen, nachdem er die Tagesdecke abgeklopft hatte, um sicherzugehen, dass keine nach oben ragenden Dolche auf ihn lauerten. In der gnadenlosen Gemeinschaft des Schlafsaals war er nächtlichem Spott ausgeliefert, alle Jungen klopften ausgiebig Betten, Vorhänge, Bodendielen und Stühle nach verborgenen Gefahren ab. Wochenlang ging das so, bis Henry eines Abends nach einem Waldlauf direkt ins Bett geplumpst war, zu müde,um noch Angst zu haben. Das Bett hatte er nie wieder abgeklopft, doch auch als Erwachsener spürte er noch einen Rest dieser Angst. Nessa hatte darüber gespottet, dass er einen Baseballschläger im Schlafzimmer aufbewahrte, und nun öffnete er in einem verschlossenen und mit Alarmanlage ausgestatteten Haus furchtsam die Schränke.
Der folgende Tag war wie ein Tag mit Jetlag gewesen. Am Morgen war Henry misstrauisch und müde durchs Haus gewankt. Er brauchte einen
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