Die spaete Ernte des Henry Cage
aller Seelenruhe ins Studio weiter, wo er, wie Henry glaubt, Witze mit der Visagistin über die Freuden des Sommers reißen wird, über die dünnen Kleider und die tolle Braut, die er gerade über die Straße hat gehen sehen.
Oh ja, Henry verstand die Abscheu des Schlägertypen nur zu gut, doch in seinem Fall war sie unangebracht. Er sah sich nicht als traurigen, alten Lüstling. Es war die unterdrückte Wut der jungen Frau gewesen, die seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, nicht ihr Körper, auch wenn die Fotos erkennen ließen, dass sie in der Tat sehr attraktiv war.
Am Tag vor Mrs Abrahams Rückkehr ging Henry an den Bücherschrank mit der Glasfront und schob die Polaroids zwischen die Seiten eines Buchs. Er beschloss, das Buch nach ganz oben zu verbannen, und stellte es mit der Umsicht eines gesetzestreuen Zeitungshändlers dort ab.
Am nächsten Morgen ging er fort, bevor Mrs Abraham kam. Er hatte entschieden, das zu tun, was er schon vor langer Zeit hätte tun sollen – sich hinzusetzen und mit dem Schlägertypen zu reden, von Mann zu Mann.
Henry war es nicht gewohnt, dass jemand ihn nicht mochte. Er war im Glanz leicht gewonnener Anerkennung durchs Leben gegangen. Der Zwischenfall auf derWestminster Bridge war nicht nur ein Angriff gewesen, sondern ein Affront. Die plötzliche Aggression und die Bösartigkeit der darauffolgenden Belästigungen hatten ihn in einen Zustand der Ratlosigkeit versetzt. Erst der Bruch mit Nessa und Tom, dann der Verlust seiner Firma und jetzt das. Nun, zumindest damit konnte er sich auseinandersetzen.
Sich dem Schlägertypen zu stellen, bedeutete, wieder zum Sloane Square zum Frühstücken zu gehen. Er hoffte darauf, dass die Managerin nicht da war. Vielleicht war sie sogar versetzt worden, die Angestellten wechselten doch andauernd. Er glaubte nicht, dass sie seinetwegen eine Warnung herausgegeben hatte. Schließlich war die ganze Angelegenheit nichts Ernstes gewesen, im Grunde handelte es nicht einmal um eine wirkliche Beleidigung.
Henry betrat um acht Uhr siebenundzwanzig die Brasserie, der perfekte Zeitpunkt, um einen der beiden Fensterplätze bei den Nichtrauchern zu ergattern. Ein schneller Blick rundum verriet ihm, dass keiner seiner Widersacher anwesend war. Er bestellte Kaffee und Croissant, schlug sein Buch auf und wartete.
Jemand stand neben dem Platz ihm gegenüber.
Ohne den Kopf zu heben, erkannte er die schwarze Weste und die weiße Schürze einer Kellnerin. Oh Gott, man würde ihn des Lokals verweisen. Wahrscheinlich hing an der Pinnwand für die Angestellten eine Beschreibung von ihm:
»Staatslüstling Nr. 1. Gut gekleideter Mann (Anzug), Mitte fünfzig, dunkle Haare, groß – hält meistens ein Buch zur Tarnung.«
»Das sind Sie doch, oder?«
»Ja, ich denke schon.« Er schlug sein Buch zu. »Keine Sorge. Ich wollte ohnehin gerade gehen.«
Er war nicht sicher, ob das Frühstück bei jedem Rauswurf auf Kosten des Hauses ging, und da er nicht vermessen erscheinen wollte, fügte er noch hinzu. »Könnten Sie mir bitte die Rechnung bringen?«
»Sie sind doch Henry Cage, richtig?« Die Stimme klang freundlich. »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?«
Jetzt sah er sie zum ersten Mal an. Kurze, dunkle Haare, lebhafter Blick, keine Stupsnase. Sie hätte eine der Flüchtlinge in den Fotos von Lartigue sein können, eine Bibi oder Renée. Auf einem Skihang in Megéve oder durch die Windschutzscheibe eines Bugatti hätte er sie sicherlich erkannt, aber hier …
»Ich fürchte …«
»Ich habe in Ihrer Firma gearbeitet. Wir sind uns an Ihrem letzten Tag im Fahrstuhl begegnet. Ich war eine der neuen Trainees. Maude Singer.«
Sie hielt ihm die Hand hin. Er lächelte erleichtert und schüttelte sie. »Ich erinnere mich. Ich war nicht sehr gesprächig.«
»Nein, ich war zu geschwätzig. Schweigen war da genau die richtige Reaktion.«
»Was machen Sie denn hier?«
»Wenn ich nicht gleich wieder etwas mache, feuern sie mich – und, nein, ich bin nicht bei Henry Cage & Partners rausgeflogen –, ich bin freiwillig gegangen.«
»Ich würde gern hören, warum.«
Sie zuckte mit den Schultern und war verschwunden. Henry ließ sich mit seinem Kaffee noch weitere zwanzig Minuten Zeit, doch der Schlägertyp tauchte nicht auf. Er bezahlte und ging. An der Tür sah er sich nach Maude um, entdeckte sie aber nicht.
Auf dem Weg zum Frühstück am nächsten Morgen ertappte sich Henry dabei, wie er summte. Es war wie die Wiederentdeckung eines früheren, glücklicheren Ich.
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