Die spaete Ernte des Henry Cage
nicht mehr genug Fleisch auf den Knochen hatte, um ihm eine Spritze geben zu können, war Jack die Sorge seiner Mutter um den Kampfgeist seines Vaters vollkommen irrelevant erschienen.
Sein Vater starb mit offenen Augen. Jack war im Zimmer gewesen – er hatte Nachtwache gehalten, war aber im Lehnstuhl eingeschlafen. Etwas hatte ihn geweckt. Ihm gefiel der Gedanke, er hätte der Eingebung eines Sohnes folgend gehandelt, aber es war wohl eher das Morgenlicht gewesen, das durch die billigen, ungesäumten Vorhänge gefallen war. So oder so hatte er den letzten Augenblick verpasst, vielleicht nur um Sekunden, denn in der Spucke am Kinn seines Vaters glänzten noch Luftbläschen.
Mit einem Zipfel der Bettdecke hatte er ihm die Spucke abgewischt und ihm die Augen geschlossen. Erst dann hatte er seine Mutter gerufen.
»Gott sei Dank. Er ist friedlich eingeschlafen.«
»Ja«, hatte er gesagt. Auf eine Lüge mehr oder weniger kam es nicht an.
Nessas Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.
»Ich muss los – bis morgen.«
»Ja, pass auf dich auf. Ist das okay, wenn ich das sage – hört sich das nicht allzu besorgt an?«
»Bye, Jack.«
Zu Hause zog Nessa eine Jacke an und ging an den Strand. Sie hielt sich nordwärts, einem steten Wind entgegen, der ihr das Tempo nahm. Normalerweise ging sie bis zum Four Seasons, bevor sie kehrtmachte, doch heute schaffte sie es nur bis zum Ritz Carlton, wo sie sich dankbar auf eine der Sonnenliegen fallen ließ, die im Sand aufgereiht waren. Eigentlich waren sie nur für Hotelgäste bestimmt, aber die Strandjungs kannten sie und drückten beide Augen zu. Nessa konnte ihre zunehmende Schwächean dieser täglichen Übung ablesen. Erst war sie gejoggt, dann war sie auf Powerwalken umgestiegen, dann ging sie – nun kam es ihr so vor, als schliche sie nur mehr. Wie lange würde es dauern, bis sie nur noch ein paar Schritte schaffte? Nessa schloss die Augen und versuchte, an glücklichere Zeiten zu denken. Immer öfter dachte sie dabei an Henry.
Auf dem Weg zum Flughafen war eine Krähe direkt vor dem Taxi herabgestoßen und überfahren worden – ein gedämpfter Schlag wie eine Tür, die in der hinteren Ecke eines Hauses geschlossen wird. An jedem anderen Tag hätte sie das als schlechtes Omen angesehen. Henry und sie waren auf dem Weg in die verspäteten Flitterwochen in New York – fünf ganze Tage fort vom Büro. Sie übernachteten in einem kleinen Hotel auf der 63rd Street zwischen Madison Avenue und Park Avenue, Fahrstühle mit Eisengittern, die Bediensteten ältere Herren mit weißen Handschuhen. Stets hatten sie ihre Namen gewusst: »Mr und Mrs Cage – zehnter Stock. Gute Nacht.« Sie würde sich vorkommen wie in einem Film von Frank Capra, hatte sie gesagt.
Nessa hatte versprochen, Henry ihre Heimatstadt zu zeigen, doch gleich am ersten Tag bestimmte Henry das Programm.
»Wie wär’s mit Mittagessen, Kino und dann Dinner, davor erst mal shoppen?«, hatte er vorgeschlagen.
»Ich brauche nichts«, entgegnete Nessa.
»Was hat das denn mit Shoppen zu tun?«
Sie waren die Madison Avenue entlanggegangen undhatten sich alle Schaufenster angeschaut; durch irgendeinen glücklichen Zufall mussten sie an mehreren Straßenübergängen nacheinander nicht ein einziges Mal auf die Ampel warten. Auf späteren Reisen bemerkte sie, wie sehr Henry auf die Ampeln achtete und wie ungeduldig und gehetzt er sein Schritttempo anpasste, um die kurze Wartezeit am Straßenrand zu vermeiden. DON’T WALK war für Henry nicht die Aufforderung, stehen zu bleiben, ganz im Gegenteil. Doch an jenem Tag hatten die Götter es gut mit ihnen gemeint. Sie überquerten die Straße hin und her – von Buchhandlung zu Buchhandlung –, bis zur Frick Collection, dann zurück zum Whitney Museum of American Art. Das Frühlingswetter hatte die Stadt verzaubert. Die New Yorker ließen es einmal langsam angehen, die sonst eiligen Passanten flanierten. Als die beiden am Carlyle vorbeikamen, wusste Nessa, dass an diesem speziellen Tag die Tische zum Nachmittagstee sicher voll besetzt sein würden.
Nessa musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen aufschlug, stand die Sonne tief am Himmel, und der Strand lag im Schatten. Es war frisch geworden. Ein kleines gelbes Flugzeug flog an der Wasserlinie entlang und zog einen Werbebanner für eine Bar in Delray Beach hinter sich her. Nessa lief mit dem Wind im Rücken nach Hause. Dort ging sie schnurstracks an den Kühlschrank. Es war achtzehn Uhr. In der Bar in Delray
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