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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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In früheren Tagen hatte er im Büro häufig die Kollegen verwirrt, wenn er bei den Meetings vor sich hin gesummt hatte. Er summte, wie andere sich vielleicht nachdenklich am Ohrläppchen zupften.
    Einmal hatte er mit Nessa geschlafen und versehentlich ein paar Takte von
Waltz for Debby
gesummt, einem alten Klavierstück von Bill Evans, das sie beide mochten. Dass sie ihn aus dem Bett schubste, kam nicht sehr überraschend. Später hatte sie erklärt, dass sie auch das ganze Lied über stillgehalten hätte, schließlich war es eine nette langsame Nummer, doch hätte sie gewusst, dass Evans das Stück seiner dreijährigen Nichte gewidmet hatte.
    »Das wäre dann doch etwas komisch gewesen«, erklärte Nessa, und Henry musste lachen.

12.
    An diesem Morgen hatte Jack sein Café betreten, ohne die Tür öffnen zu müssen. In der Nacht war die Glasscheibe eingeworfen worden, und Jack war durch das Loch gestürmt, als sei der Dieb noch da, und hatte mit den Schultern Glas aus dem Türrahmen gewischt. Die Kasse war von der Theke gehoben und auf den Boden gedonnert worden, dort lag sie nun auf der Seite, die Schublade offen und leer. Das Glas konnte er für ein paar Hundert Dollar ersetzen lassen, aber das mit der Kasse war ärgerlich. Und das alles für die dreißig Dollar Kleingeld, die er jeden Abend für den kommenden Morgen in der Kasse ließ.
    »Himmel, der Penner wusste noch nicht mal, wie man eine Kasse öffnet – man schmeißt nicht das verdammte Ding auf den Boden, man drückt auf einen Knopf.«
    »Die Einbrecher sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren.«
    Vier Männer saßen rund um den Tisch: Jack, Hector, Will und Aldo. Sie trafen sich zweimal die Woche um halbneun auf einen Kaffee und einen Bagel, bevor sie Tennis spielen gingen. Der Einbruch hatte ihren Vormittag in Schwung gebracht. Wie schon der Verlust der Ficus-Bäume würde auch der Diebstahl Teil ihrer gemeinsamen Vergangenheit werden, eine dieser immer wiederkehrenden Geschichten, die man sich leicht zu eigen machen konnte.
    »Brauchst du Kleingeld für die Kasse, Jack?«
    Die vier Männer hatten genügend Zeit, um freundlich zu sein. Sie lachten gern und waren schon lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass es Schlimmeres im Leben gab als eine Kasse, die offen auf dem Boden lag.
    Als Nessa zum Mittagessen kam, achtete Arlene übertrieben darauf, dass sie den beiden Männern von Ben’s 2-Hour Glass (»Glasbruch? Wir helfen Ihnen auf die Sprünge«) nicht in die Quere kam. Sie hielt die Teller hoch und stieg über ihre Werkzeugtaschen.
    »Wenn ich hinfalle, wird Ben ganz schön blechen müssen.«
    Einer der beiden Männer stammte aus Argentinien – dunkel, gut aussehend, Zähne wie frisch aus der Zahnpastawerbung.
    »Wenn du fällst, fang ich dich auf.«
    Arlene lachte und hoffte, dass er die blauen Flecken an ihrem linken Oberschenkel nicht bemerkt hatte. Warum in aller Welt musste sie auch heute unbedingt Shorts anziehen? Obwohl, andererseits, vielleicht brachten die blauen Flecken ihn ja auf Gedanken. Arlene ertappte sich dabei, wie gern sie es hätte, wenn er auf Gedanken käme.
    Jack hatte zwei Sandwiches mit Hühnersalat auf Roggentoastzubereitet und sich zu Nessa gesetzt, um mit ihr zu Mittag zu essen.
    »Du siehst müde aus.«
    »Das ist keine Müdigkeit, Jack, das ist Krebs.« Sie nahm ihr Sandwich in die Hand und lächelte ihn an. »Ich habe letzte Nacht zehn Stunden geschlafen.«
    Er entnahm ihrem Lächeln, dass sie ihm seine Fürsorge verzieh. Sie war nicht immer so nachsichtig. Sie hatte schon ohne jede Erklärung Freunde fallenlassen, die ihr Mitgefühl zu offen zur Schau getragen hatten. »Ich halte diese sanften Stimmen und feuchten Augen nicht aus«, sagte sie dann. »Das macht mir höllische Angst.«
    Jack verstand ihre Gefühle, tat sich aber schwer, sich seine Sorgen nicht anmerken zu lassen. In den Fünfzigern war sein Vater an Krebs gestorben. Damals war Krebs die reinste Voodoo-Krankheit gewesen. In den elf Monaten von der Diagnose bis zum Ableben seines Vaters hatten Jack oder seine Mutter das gefürchtete K-Wort nicht ein einziges Mal ausgesprochen. Selbst die Ärzte hatten Jacks Mutter geraten, ihrem Mann nicht zu sagen, dass er Krebs hatte. Man glaubte, das sei schlecht für seinen Überlebenswillen. Jack, der damals neunzehn war, war ungewollt mit in diese Verschwörung hineingezogen worden.
    Zum Ende hin, als sein Vater gerade noch dreißig Kilo wog und sie ihm das Morphin oral verabreichen mussten, weil er

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