Die spaete Ernte des Henry Cage
zurück. Ein Paar mit vier kleinen Kindern hatte am Tisch neben ihm Platz genommen. Der Vater war Mitte dreißig, schlank, hatte ein jungenhaftes Gesicht und sandfarbene Haare. Seine Frau hatte sich eilig irgendwas angezogen, wie es schien. Ihre Turnschuhe waren nicht zugebunden, und aus den Shorts lugte ein Zipfel ihres T-Shirts . Ihre Haare waren noch feucht von der Dusche, und sie und die Kinder hockten träge auf ihren Stühlen, während der Vater, der viel zu laut und fröhlich wirkte für diese frühe Morgenstunde, das Kommando übernahm.
»Und, was machen wir heute? Pool? Sag ich doch!«
Henry schaute noch einmal hinaus. Der Poolbereich wirkte groß genug, um Daddys guter Laune entgehen zu können.
Eine halbe Stunde später hatte sich Henry auf eine Sonnenliege am hinteren Ende des Pools gelegt. Die kleinen Kinder würden sich wohl an das flache Wasser am anderen Ende des Beckens halten, nahm er an. Kurz darauf tauchte die Familie auf und machte es sich neben Henry bequem. Ziemlich schnell wurde klar, dass die vier Kinder gute Chancen hatten, ins amerikanische Nationalteam aufgenommen zu werden. Einer der Jungen war besondersgut im Tauchen. Er drückte sich ab, legte die Arme an und glitt fast durch das ganze Becken, bevor er wieder auftauchte. Jedes Mal, wenn er das tat, fing der Vater zu singen an: »Man ruft nur Flipper, Flipper, gleich wird er kommen, jeder kennt ihn, den klugen Delphin.«
Nach der zehnten Wiederholung brach Henry zum Strand auf.
Er beschloss, südwärts dem Wind entgegenzugehen; auf dem Rückweg brauchte er vielleicht Rückenwind. Es war Sonntag, doch um diese Uhrzeit war der Strand fast menschenleer. Zwei Joggerinnen kamen vorbei, fröhliche Frauen, fit genug, um laut rufend zu grüßen.
In der Entfernung sah Henry eine Gestalt am Wasser stehen. Das Gehen fiel ihm schwer, der weiche Sand gab unter seinen Füßen nach. Er ging näher ans Wasser, um festeren Untergrund zu haben. Er hatte gar nicht gewusst, dass er so schlecht in Form war. Henry blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und tat so, als würde er sich für die dunklen Umrisse eines Containerschiffs interessieren, das am Horizont entlangglitt. Nach dem Spaziergang wollte er nachsehen, ob es im Hotel einen Fitnessraum gab. Dann lief er weiter südwärts und hielt sich an einen grobkörnigen Sandstreifen, auf dem er zwar besseren Halt hatte, dafür schmerzten jetzt seine Fußsohlen. Die Gestalt in der Entfernung kam langsam auf ihn zu. Eine Frau, konnte er erkennen. In Gedanken spielte er durch, wie man einer einsamen Frau am Strand begegnete: War es korrekt, einen Guten Morgen zu wünschen, oder sollte man jeden Blickkontakt vermeiden und schweigend weitergehen,so, als sei man tief in Gedanken versunken? Das Problem löste sich von allein.
»Henry? Ich fasse es nicht. Bist du das?«
Im Film wären sie jetzt unter wogenden Geigenklängen aufeinander zugeeilt, doch im richtigen Leben musste Henry den Impuls unterdrücken, auf der Stelle umzudrehen und wegzulaufen. Die Stimme war unverkennbar die von Nessa, doch selbst aus fünfzig Metern Entfernung konnte er sehen, dass diese Frau nicht Nessa war. Sie kam weiter auf ihn zu, die Knie zeichneten sich überdeutlich ab, die Oberschenkel waren dürr, ausgezehrt. Oh Gott! Bitte, lass es nicht Nessa sein! Henry hatte den Sandstreifen hinter sich gelassen, und seine Füße versanken im feinen Sand. Er blieb stehen und wartete auf sie.
»Henry, warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?«
Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er hielt ihr auch die andere Wange hin, doch sie hatte sich schon wieder an die amerikanische Art gewöhnt, nur eine Wange zu küssen, und trat einen Schritt zurück. Bei der Umarmung hatte er ihre Hüfte gespürt; der harte Knochen wirkte wie eine ärztliche Diagnose.
»Ich wollte dich überraschen«, erwiderte er.
»Na, das hat ja geklappt.«
Sie hatte die Sonnenbrille abgenommen, und er konnte ihr Gesicht sehen.
»Tut mir leid. Ich wusste nichts davon.«
»Das solltest du ja auch nicht. Was hättest du denn schon machen können?«
Am Abend gingen sie in Palm Beach essen. Das Restaurant, in dem Henry die Concierge gebeten hatte zu reservieren, war unpersönlich und umsatzorientiert. Der Risotto, den sie sich bestellten, wurde nahezu umgehend serviert. Er war klebrig und direkt aus der Mikrowelle. Offenbar gab es keinen Koch in der Küche, der fünfundzwanzig Minuten Zeit hatte, gab es keinen Puristen, der bereit war, die
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