Die spaete Ernte des Henry Cage
Brühe löffelweise in den köchelnden Reis zu geben. Nach einer Dreiviertelstunde bot man ihnen bereits den Nachtisch an, nach einer Stunde waren sie wieder draußen. Am Straßenrand eilte ein Parkwächter auf sie zu, um sich den Parkschein für ihren Wagen geben zu lassen.
»Hoffentlich hatten Sie überhaupt Zeit, ihn zu parken.«
»Ja, Ma’am«, antwortete der junge Mann, an den Nessas Sarkasmus offenbar verschwendet war.
Als Henry wieder in seinem großen Bett in der Herzogssuite lag, taten Jetlag und Kummer alles, um ihn am Einschlafen zu hindern. Er hatte sein Radio bei sich, doch in den USA waren die Talkshows selbst um zwei Uhr früh noch zu aufregend, um einschläfernd zu wirken. Die Verrückten waren noch verrückter, die Wütenden noch wütender. Henry suchte weiter nach Langeweile. Einen Augenblick glaubte er, sie auf einem religiösen Sender gefunden zu haben. Der Prediger hatte eine sonore Stimme und vereinfachte alles übermäßig, Henry schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, doch langsam kam der Prediger in Schwung.
»Gott«, so tönte er, »ist wie der gute Apotheker, der uns die Medizin so verabreicht, dass wir auch ja nicht mehr bekommen, als gut für uns ist. NICHT EIN BISSCHEN MEHR! Niemals sendet er uns mehr Schmerz, als wir ertragen können.«
»Und was ist mit den Selbstmördern? Du selbstgefälliger Mistkerl!«, rief Henry laut aus.
19.
Maude war dreißig, und bislang hatte sie alle ernsthaften Enttäuschungen vermeiden können – nicht, weil ihr Leben so friedlich verlaufen wäre, sondern weil sie immer vorsichtig gewesen war. Drohte am Horizont Traurigkeit, huschte sie in eine Seitengasse und nahm einen anderen Weg. An der Universität galt sie als Verführerin. Sie flirtete gern und genoss die intellektuellen Herausforderungen des Umworbenwerdens, doch ging sie nur selten weiter. Sie mochte Romane, in denen Schicksal oder Pflichtbewusstsein die Liebenden trennte, die beiden einander aber treu blieben. Sie erklärte (nur halb im Scherz), dass unerwiderte Liebe die einzige Art von Liebe sei, die Bestand habe.
Mit Henry zu schlafen war ein Akt der Freundlichkeit gewesen. Der Gedanke, mit einem Mann zu schlafen, der nur ein paar Jahre jünger war als ihr eigener Vater, hatte sie nervös gemacht – keine Frage des Alters, meinte sie, sondern eine der Ästhetik. Als Henry sich auskleidete,hatte sie zu ihrer Erleichterung gesehen, dass sein Körper nicht abstoßend war. Auf seinen Beinen fanden sich keine Krampfadern, wie sie es von den seltenen Ausflügen mit ihrem Vater an den Strand noch gut in Erinnerung hatte.
Henry hatte ihr Schlafzimmer betreten wie ein Museumsbesucher, der zwar schauen, aber nichts anfassen darf. Ihr Liebesspiel war freundlich und wechselseitig anregend gewesen, kein Feuerwerk, aber gut genug, wie er hoffte. Er fand ihren Körper schön, das hatte er ihr auch gesagt. Als er aufstand, war sie im Bett geblieben und hatte ihm dabei zugesehen, wie er sich anzog; sie wusste, das würde ihn irritieren. Kaum war er draußen auf der Treppe gewesen, hatte sie den Fernseher angeschaltet.
Damals hatte Maude geglaubt, sie würden weiterhin eine sentimentale Freundschaft pflegen, die zwar ab und zu mit Sex garniert war, in der es aber nicht um Sex ging. Ihr war klar, dass Henry vielleicht andere Prioritäten hatte; sie wusste um sein Bedürfnis nach körperlicher Bestätigung, aber sie hatte nicht daran gezweifelt, dass er sich auf ihre Bedingungen einlassen würde. Hatte er denn eine Wahl? In Maudes Zukunftsfantasien waren sie nicht miteinander im Bett, sondern in Paris oder Rom – Spaziergänge am Tag, Dinner am Abend unter Bäumen, der letzte Schein der Sonne, im schweren Silberbesteck glitzernd. Sie lachte über sich selbst, aber die pubertären Bilder waren hartnäckig. Maude hatte sogar die Wege geplant, die sie beide gehen, die Hotels, in denen sie übernachten würden. Sie stellte sich die Zeit mit ihm gemächlich vor, ohne Hast.
Ihn auf der Fahrt nach Norfolk so verzweifelt zu erleben,hatte sie aus der Fassung gebracht. Es waren nicht nur die neu aufgetretenen Komplikationen in seinem Leben, die sie verwirrt hatten, sondern auch die Art, wie er aussah, wenn er Qualen litt. Zum ersten Mal hatte sie ihn in unvorteilhaftem Licht gesehen, aber das reichte schon. Sie kannte diese Oberflächlichkeit an sich. Sie hatte angenehme Beziehungen abgebrochen, weil der Mann, der sonst in jeder Hinsicht der Richtige war, zu einer Verabredung in einer Hose erschienen
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