Die spaete Ernte des Henry Cage
Ladenschilder werden plötzlich aufdringlich, so, als wollten sie in Konkurrenz mit dem Highway treten. Der örtliche Schönheitssalon Hair & Nail, ein bescheidenes Unternehmen mit vier Stühlen und zwei Mitarbeiterinnen, kündigt sich optimistisch mit einem zwei Stockwerke hohen Werbeschild auf dem Dach des einstöckigen Gebäudes an. Auf der anderen Straßenseite springt ein Merlin aus Fiberglas durch das Dach einer Bruchbude für Anglerbedarf. An dem Deli direkt neben der Straße strahlt genug Neon, um als verkehrsgefährdend zu gelten.
Nur zwei Geschäfte halten sich zurück: ein Blumenladen, dessen schmutzige Fenster die Tatsache verschleiern,dass hier gar keine Blumen angeboten werden, zumindest keine echten, sondern nur ein Blumenlieferservice. An der Tür setzen ein halbes Dutzend Seidenblumen in einem trockenen Eimer Staub an. Nicht anders als die wenig ansehnlichen Streuner in einem Hundeasyl warten sie nun schon seit Langem darauf, dass sie jemand mit nach Hause nimmt.
Neben dem Blumenladen liegt ein italienisches Restaurant und bildet eine kleine Insel der Friedfertigkeit. Es handelt sich um ein Familienunternehmen, das seit dreißig Jahren damit zufrieden ist, seine Küche für sich werben zu lassen. Nessa hat für zwanzig Uhr einen Ecktisch reserviert.
»Henry, warum setzt du dich nicht in die Mitte, dann kannst du dich umschauen. Jack und ich sind schon so oft hiergewesen, wir wissen, dass es nichts zu sehen gibt.«
Nach dem ersten abendlichen Ansturm schöpft das Restaurant kurz Atem; nicht alle Tische sind besetzt.
»Hektisch ist es zwischen halb sechs und sieben Uhr abends. Die Alten essen von Jahr zu Jahr immer früher. Wenn das so weitergeht, werden die Ärzte allen über sechzig empfehlen, nach dem Mittag nichts mehr zu sich zu nehmen«, meint Jack.
Henry sieht sich um. Tatsächlich – abgesehen von einem älteren Paar, das mit einer Frau mittleren Alters isst, bei der es sich wahrscheinlich um ihre Tochter handelt, sind die Alten nach Hause gegangen, und die Gäste sind recht jung. Intime Atmosphäre, sanftes Licht, die einst weißen Tischtücher zu einem kraftlosen Grau verwaschen.Ein Aquarium mit Tropenfischen dient als Raumteiler und schirmt die Gäste vom Empfangsbereich an der Eingangstür ab. Henry erzählt die Geschichte von einem Klienten, der sich ein Aquarium für vierzigtausend Pfund in sein Büro stellen ließ. Das Aquarium nahm eine ganze Wand vor dem Schreibtisch des Klienten ein. Die Fische fanden es entspannend, dem Chef beim Arbeiten zuzusehen, so witzelten die Angestellten.
Die Story erinnert Jack an Terry Cartwright, den Besitzer eines Aufnahmestudios in New York. Auch er hatte das ganze Studio voller Aquarien.
»Terry war ein Brocken von Mann, locker hundertfünfunddreißig Kilo – ein berüchtigter Vielfraß, der jeden Tag im selben Laden Downtown essen ging. Er hatte einen Spitznamen, ›Terry Two Cabs‹. Alle nannten ihn so, nicht in seiner Gegenwart, wohlgemerkt. Es kursierte die Geschichte, dass seine Sekretärin ihm ein Taxi geschickt hatte, um ihn zur üblichen Zeit um halb drei vom Restaurant abholen zu lassen. Um drei rief das Restaurant an und bat sie, noch ein Cab zu schicken. Das Erste habe er aufgegessen, sagten sie.«
Henry erfährt, dass Jack in New York Schauspieler gewesen war.
»Keine große Karriere, aber das wenigstens konsequent. Wenn ich nicht gerade kellnerte, habe ich die Zeit totgeschlagen.«
Henry muss grinsen.
»Dann hatte ich Glück und bekam ein paar Jobs als Stimme aus dem Off, so habe ich Terry kennengelernt.Ich war gut darin. Ich konnte Akzente nachahmen und schnell lesen. Dauerte nicht lange, da bin ich nicht mehr zum Vorsprechen gegangen und habe nur noch Radiowerbung und Fernsehspots gemacht. Gut bezahlt, aber im Grunde ein dummes Geschäft. Mit ein wenig Verstand hält man das nur eine Weile aus. Na, vielleicht ist das der Grund, warum ich das zwanzig Jahre lang gemacht habe.«
Henry hatte es immer recht merkwürdig gefunden, dass der Humor in Amerika, dieser mutigen, stolzen Supermacht auf der Weltbühne, so selbstironisch sein musste. Im Laufe der Jahre waren ihm zahllose Amerikaner begegnet, die sich selbst heruntermachten, um jemanden zum Lachen zu bringen. Das wirkte durchaus entwaffnend, doch schon bald war Henry aufgefallen, dass das nicht grundsätzlich ein Garant für Bescheidenheit war.
»Ich kenne mich ein wenig aus«, meint Henry. »Die Leute tun mir leid. Es kommt mir immer so vor, als hätten sie dreißig
Weitere Kostenlose Bücher