Die spaete Ernte des Henry Cage
Nahaufnahmen drehte sie zuerst um – das dritte Bild war da schon eher eine Erleichterung. Mrs Abraham hatte angenommen, dass die Nahaufnahmen von Nessa stammten. Nicht, dass Mrs Abraham sonderlich schockiert war. Sex war Sex, Körper waren Körper, und sie hatte in diesem Haus schon genug Wäsche gewaschen, um zu wissen, dass es niemals ein Kloster gewesen war. Trotzdem hatte sie Nessa nicht als eine Frau in Erinnerung, die vor einer Kamera die Beine breit gemacht hätte, zumindest nicht mit ernstem Gesicht. Aber wer war diese junge Frau? Kannte Henry sie?
Manchmal hatte sich Mrs Abraham schon gefragt, was seit der Scheidung aus Mr Cages Sexualleben geworden war. Was immer es war, es fand zumindest nicht zu Hause statt. Ein, zwei Jahre lang war sie montagmorgens erschienen und hatte auf einen Hauch von Parfüm in der Luft gelauert, auf irgendwelche Spuren im Bett oder im Bad, aber es hatte keinerlei Anzeichen gegeben. Keine Verhütungsmittel im Badezimmerschrank, keine netten Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, keine Liebesbriefe im Toastständer. So langsam bezweifelte Mrs Abraham, ob Mr Cage da unten überhaupt noch lebte.
Sie nahm die Fotos und das Buch mit zum Sessel am Fenster und setzte sich. Sie musste nachdenken. Ihr erster Instinkt riet ihr, die Fotos wieder ins Buch zu stecken, damit keiner etwas merkte. Aber was, wenn Henry die Fotos bei einer bestimmten Seite eingelegt hatte? Mrs Abrahamdurchblätterte das Buch nach weiteren Fotos und bemerkte die Handschrift auf der Titelseite. Sie erkannte sofort, dass es nicht Henrys Schrift war.
Erste amerikanische Ausgabe, £40.
Aber natürlich! Das Buch war gebraucht gekauft! Das war die Antwort. Mr Cage hatte es wohl ungelesen direkt ins Regal gestellt. Er konnte ja unmöglich all die Bücher lesen, die er sich bestellte. Er war erst eine Woche fort, und schon jetzt stapelten sich die Kataloge auf dem Küchentisch. Mrs. Abraham war zufrieden, brachte die Fotos in die Küche und warf sie in den Mülleimer. Am Donnerstag würden sie auf der Deponie landen. Kein Grund, ihn mit etwas zu quälen, was für ihn unerreichbar war.
Mrs Abraham machte sich wieder ans Bücherabstauben und arbeitete sich bis nach unten durch. Sie war gründlich und hatte Respekt vor Büchern. Handelte es sich um ein Gartenbuch oder irgend etwas über Architektur, hielt sie ab und zu inne und sah sich die Fotos an. Sie brauchte zwei Stunden für die Bücher im Vorderzimmer. Um die Bibliothek würde sie sich morgen kümmern, beschloss sie.
Um zehn nach eins ging Mrs Abraham. Sie war ein wenig später dran als sonst, aber sie hatte keine Eile; ihre Nachmittagsstelle fing erst um vierzehn Uhr an. Sie verriegelte die drei Schlösser an der Haustür; das obere Schloss war so hoch angebracht, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste.
Als sie sich umdrehte, entdeckte sie ein junges Pärchen am Tor, das den Garten bewunderte. Die Frau machte Fotos.
»Hübsch, nicht wahr? Sie sollten ihn mal im Sommer sehen.« Sie musste ja nicht erwähnen, dass ihr der Garten gar nicht gehörte.
»Na, dann brauchen wir ja nicht mehr lange zu warten.«
Der junge Mann wirkte freundlich und öffnete ihr ein wenig unbeholfen das Tor, weil er einen Arm in Gips trug.
»Wir bleiben immer stehen und betrachten den Garten.«
»Ja, er ist hübsch.«
Die Frau hatte die Kamera gesenkt. Eine angenehme Stimme, Mrs Abraham lächelte. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass ihr die Frau bekannt vorkam. Aber sie sah sie ja auch zum ersten Mal vollständig bekleidet.
»Ach, eines Tages vergesse ich noch meinen Kopf. Ich habe meine Geldbörse liegen lassen.« Schnell eilte Mrs Abraham den Weg zurück.
In der Küche zog sie die Fotos aus dem Mülleimer, holte die Trittleiter hervor und legte sie ins Buch zurück. Es machte gar nichts, dass sie an der falschen Stelle waren. Etwas dazu zu sagen, wäre Mr Cage viel zu peinlich.
23.
Am Abend hatte Jack eine Pokerrunde mit seinen Tennisfreunden arrangiert und den Tanz im Ritz Carlton abgesagt. In der Woche zuvor waren sie zu dritt ausgegangen. Bei dieser Gelegenheit hatte Henry, abgesehen von zwei Toilettenbesuchen, am Tisch gesessen, war umgänglich gewesen, hatte aber nicht getanzt. In den Siebzigern hatte es eine Zeit gegeben, da hatte ihn der Twist auf die Tanzfläche gelockt, doch als Chubby Checker auscheckte, hatte Henry das ebenfalls getan.
Jetzt, ohne Jack, wusste er nicht genau, wie er sich verhalten sollte.
»Keine Sorge, Henry, wir
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