Die spaete Ernte des Henry Cage
konnte; was aber ganz wichtig für mich wurde, war so eine Art viktorianischer Holzbaukasten. Er bestand aus kleinen Holzstücken, die man ineinander verhakte. Auf den Stücken standen Buchstaben, und der Besitzer hatte eine Pyramide gebaut, auf der von oben nach unten Folgendes stand –« Nessa buchstabierte.
I
CH
FAL
LENI
CHTUM
»Später fand ich dann eine Schachtel im Schrank. Genau so hieß das Spiel – Ich falle nicht um.«
Henry sah sie an. »Und das bist du auch nicht.«
»Das wurde zu meinem Mantra. War ich allein am Strand und heulte vor Kummer, habe ich mir das immer wieder vorgesagt: Ich falle nicht um … Ich falle nicht um … Ich falle nicht um … Das waren die schlimmsten Tage meines Lebens, und, nein, ich bin nicht umgefallen. Und jetzt auch nicht. Wenn du mir hilfst, meine ich.«
»Natürlich.«
Das Reden hatte sie ermüdet. Nessa hatte all ihre Kraft für diesen letzten Wunsch zusammennehmen müssen. Kurz vor Weihnachten hatte sie alles doppelt gesehen; ein C T-Scan hatte Metastasen im Gehirn bestätigt. Nessa hatte sich einer Strahlen- und Chemotherapie unterzogen, und für ein paar Wochen hatte sie besser sehen können, doch letzte Nacht musste sie Henry gestehen, dass ihr Sehvermögen wieder schlechter wurde. Sie hatte Schwierigkeiten, ihr linkes Auge zu bewegen.
»Ich möchte, dass ihr nach England zurückkehrt. Ich will nicht, dass Hal mich sieht, wenn es so weit ist. Dafür ist er zu jung – außerdem hat er schon genug in der Schule versäumt.«
»Ich muss nicht mehr in die Schule.«
Sie bewegte sich ein wenig und legte den Kopf an seine Schulter.
»Henry Cage, ich liebe dich so sehr, ich könnte sterben. Aber das bedeutet nicht, mein Schatz, dass ich dich hier haben will, um zuzuschauen. Es könnte noch Wochen oder Monate dauern – wer weiß? Komm zurück und verabschiede dich. Wenn ich dir nicht mehr Bescheid geben kann, dann macht Jack das.«
Drei Tage später reisten sie ab. Nessa hatte im Gepäck Briefe an jeden der Erwachsenen versteckt, auch einen an Hal, den er bekommen sollte, wann immer Tom und Jane es für richtig hielten.
Eine Woche später bezog sie mit einer flotten schwarzen Augenklappe ein Zimmer in der Palliativstation einesKrankenhauses in West Palm Beach. Sie hatte einen kleinen Koffer bei sich und fuhr in einem alten Impala Station Wagon vor.
Mrs Abraham legte ihre Zeitung zusammen.
»Tut mir leid. Ich kümmere mich gleich wieder um die Wäsche. Ich bin nur so niedergeschlagen, das ist alles.«
Am Vortag war sie überrascht gewesen, ihn im Haus vorzufinden. Henry hatte während des Nachtfluges nicht geschlafen und wollte nur ins Bett, doch er hatte auf sie gewartet, um mit ihr zu sprechen. Er hatte ihr die Situation erklärt, und Mrs Abraham hatte stumm zugehört.
»Sie wollte es so, Mrs Abraham. Sie wollte ins Hospiz, und sie wollte, dass wir für eine Weile nach Hause fliegen. Ach, und sie hat mir diesen Brief für Sie mitgegeben.«
Er hatte ihr den verschlossenen blauen Umschlag gereicht, adressiert an »Peggy«.
Mrs Abraham hatte ihn in ihre Handtasche getan. Sie wolle ihn zu Hause lesen, hatte sie gesagt – nicht im Bus; er würde sie bestimmt traurig machen, und in aller Öffentlichkeit zu weinen, das ging nun wirklich nicht.
Am nächsten Morgen hatte sie sich bis zur ihrer Kaffeepause mit der Wäsche beschäftigt. Dann war sie nach oben gegangen und hatte Henry den Brief vorgelesen.
Liebe Peggy,
ich vermisse Sie und das Haus und den Garten so sehr. Danke, dass Sie mir all die Jahre geholfen haben und meine Freundin
waren. Wir hatten viel Spaß miteinander, nicht wahr? Passen Sie bitte für mich auf Henry auf, er ist so ein alter Schussel, und er wird bestimmt eine ganze Weile unmöglich sein. Ich habe keine Schmerzen und bin ganz ruhig.
Alles Liebe, Nessa
»Wie können Sie jetzt nicht bei ihr sein, Mr Cage? Ist mir ganz gleich, was sie gesagt hat. Sie können mir glauben, sie hat es nicht so gemeint. Sie hat dabei nur an Sie gedacht.«
Die Möglichkeit, dass Mrs Abraham recht haben könnte, war Henry bislang nicht in den Sinn gekommen. Nessa hatte ihr Herz immer auf der Zunge getragen. Wenn sie gewollt hätte, dass er bleibt, dann hätte sie das auch gesagt.
»Nessa hat es so gewollt, Mrs Abraham. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Aber wollten Sie nicht bei ihr bleiben, Mr Cage? Wollten Sie nicht jede einzelne Minute bei ihr sein, die sie noch hat?«
»Ich wollte, was sie wollte.«
Mrs Abraham schaute verblüfft,
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