Die spaete Ernte des Henry Cage
nicht? Sie versucht, alle miteinander zu versöhnen, alles Unrecht ungeschehen zu machen. Dad ist hier – mehr hat sie nicht gewollt.«
»Es ist zu spät – warum hat er ihr nicht schon vor Jahren vergeben?«
»Da wurde alles so in die Öffentlichkeit gezerrt – wenn es nicht in den Zeitungen gestanden hätte, dann hätte ihm das nicht so viel ausgemacht.«
»Trotzdem.«
»Ich denke, wenn man sein ganzes Leben damit verbringt, anderer Leute Reputation aufzubauen, dann kümmert man sich am Ende vielleicht zu sehr um seinen eigenen Ruf.«
Tom zuckte mit den Schultern, das Schulterzucken eines kleinen Jungen, das von Henry auf Tom übergegangen war und nun auch bei Hal zu finden war. Die drei brauchen keine DN S-Probe abzugeben, dachte Jane – dieVerwandtschaft ist für alle deutlich zu erkennen. Hal ist ein kleiner Henry, nicht nur dem Namen nach.
»Ich mag deinen Vater, weißt du?«, sagte sie.
»Das weiß ich, ja.«
»Hast du ihn gestern Abend vorlesen hören? Er muss Hal
Die kleine rote Lok kommt zu Hilfe
mindestens sechsmal vorgelesen haben.«
Tom lachte. »Hal hat’s mir erzählt. Er sagt, Henry macht alle Geräusche nach. Offenbar schnauft seine Lok besser als meine.«
Auf dem Parkplatz zog sie ihn an sich. Sie blieben im Schatten stehen und küssten sich.
»Versprich mir, dass wir nie so sein werden wie Nessa und Henry«, sagte sie.
Als sie im Impala saßen, wollte der Wagen nicht anspringen. Tom kehrte ins Restaurant zurück und rief Jack bei Nessa an.
»Bleibt beim Wagen. Niemand darf ihn anrühren. Ich komme mit eurem Leihwagen, dann könnt ihr damit nach Hause fahren. Ich bin in einer Viertelstunde da. Versucht nicht, ihn wieder zu starten. Leiert die Batterie nicht leer. Tut gar nichts. Es kann nichts Ernstes sein.«
»Wie hat er sich angehört?«, fragte Jane, als Tom zurückkam.
»Er denkt, wir hätten seinen Wagen kaputt gemacht.«
28.
Henry senkte den Blick beim Gehen und beobachtete seine Füße, die sich über den Sand bewegten. Er war froh zu sehen, dass sie immer noch nach vorn zeigten. Eine junge Frau eilte an ihm vorbei. Er schaute ihr nach. Trotz ihres sportlichen Körpers war sie dazu verdammt, die Füße im Watschelgang der Übergewichtigen zu bewegen. Ihr linker Fuß landete bei zehn Uhr, der rechte bei zwei Uhr. Wie willkürlich Anmut verteilt ist, dachte Henry.
Es war acht Uhr morgens. Ruhiges Wetter – das Meer so flach wie ein blauer Musterstreifen auf einer Farbkarte.
Henry warf Nessa einen Blick zu. »Keine Spur von Hal?« Ihr Enkel war ein Junge, bei dem Aufwachen und Aufstehen eins war, und normalerweise begleitete er sie auf ihrem frühmorgendlichen Spaziergang.
»Wenn er aufwacht, wird er schon wissen, wo er uns findet.«
»Du bist heute schwächer als gestern, oder?«
»Ja, die Nacht war schlimm.«
Nessa wich einer Qualle aus, die das Meer auf den Sand gespült hatte.
»Weißt du noch, als du dich geweigert hast, mich wieder aufzunehmen, und ich zu Tom und Jane nach Norwich gegangen bin? Weißt du, wohin ich danach gegangen bin?«
»Hierher, dachte ich.«
Ihr Atem wurde schneller, und ihre Hand klammerte sich an seinen Arm.
»Ich bin müde, lass uns für einen Augenblick hinsetzen.«
Henry führte Nessa zu der niedrigen Strandmauer vor dem nächsten Haus. Weiter kam sie in letzter Zeit nicht mehr – vielleicht zweihundert Meter in beide Richtungen. Sie setzten sich und lehnten an dem verputzten Beton. Selbst zu dieser frühen Stunde hatte die Wand schon Sonnenwärme gespeichert, und Nessa fühlte sich an den Küchengarten in Holkham in Norfolk erinnert, wo sich Spalieräpfel vor roten Ziegelwänden sonnten. Es hatte ihr gefallen, wie die Bäume die Äste ausbreiteten, um die Sonne aufzunehmen, und nun streckte sie in Erinnerung daran selbst die Arme aus.
Henry wartete darauf, dass Nessa die Unterhaltung fortsetzte. Sie hatte die Augen geschlossen, und er griff nach ihrer Hand.
»Nein, ich bin nicht direkt hierhergekommen. Ich habe mir an der Küste bei Wells-next-the-Sea ein Landhäuschen gemietet. Dort bin ich einen Monat geblieben. Das Haus wurde normalerweise nicht vermietet, deshalb wares mit allem Möglichen vollgestellt. Viele Gemälde und Bücher. Auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stand altes Spielzeug; gusseiserne Spardosen, ein Seemann, eine Henne und ein Affe. Ich erinnere mich, da waren noch Spielzeugautos aus den Dreißigern und Holzlöffel und Eier zum Eierlaufen. Ach ja, und ein hölzernes Schwein, das eine Schräge hinuntergehen
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