Die spaete Ernte des Henry Cage
ist mir jetzt klar geworden.
Du hast vielleicht mitbekommen, dass ich letzte Nacht mit ihr
telefoniert habe – nicht sehr lange, sie war zu müde. Sie hat mir gesagt, dass sie so gut wie nichts mehr sieht. Ich fürchte, ich kann das nicht hier aussitzen – ich komme mir so fern vor. Ich bin übers Wochenende bei Tom und Jane, ich werde also Deine nächste E-Mail dort erhalten. Wenn ich wieder in London bin, buche ich einen Flug nach Miami. Danke, dass Du da bist.
Henry
Es war Hal gewesen, der Henry nach Norfolk eingeladen hatte. Er hatte eines frühen Morgens angerufen.
»Opa, kommst du uns besuchen?«
Im Hintergrund waren Einflüsterungen zu hören.
»Am Wochenende, meine ich.«
»Oh, einen Augenblick, bitte, ich will mal sehen, ob ich deinen Opa finden kann – ich bin Albert Entwhistle. Ich bin nur hier, um die Dusche von deinem Opa zu reparieren. Wer spricht denn da?«
»Hal.« Henry konnte hören, wie die kleine Stimme unsicher wurde.
»Alles klar, ich ruf ihn mal.«
Henry hielt den Hörer beiseite und rief in demselben Lancashire-Dialekt wie zuvor: »Henry, da ist ein Hal am Telefon.« Dann hielt er den Hörer wieder an den Mund: »Er kommt.«
Henry hörte, was Hal seinen Eltern berichtete. »Ich glaub, das ist Opa, der tut nur so.«
»Hallo, Hal, bist du’s?« Diesmal sprach Henry mit seiner richtigen Stimme.
»Das warst du doch die ganze Zeit, nicht, Opa?«
»Nein, das war Albert Entwhistle.«
Der Junge lachte.
»Kommst du übers Wochenende zu uns?«
»Gern.«
»Und Opa – diesen Albert lass zu Hause.«
Bei einem ihrer morgendlichen Spaziergänge in Florida hatte Nessa vorgeschlagen, er solle sich doch ein Wochenendhaus in Norfolk suchen.
»Ich bin nicht sicher, ob Tom schon so weit ist.«
»Da irrst du dich. Wir haben darüber gesprochen. Sie würden es beide toll finden, wenn du hinziehst. Und du würdest viel mehr von Hal haben.«
»Nessa, du bist eine hinterlistige, alte Frau.«
»Gut so.«
Sie waren übereingekommen, dass Tom und Jane sich umsehen würden. Nessa hatte vorgeschlagen, nach einem Haus in Dorfnähe zu suchen, damit er keine Schwierigkeiten hatte, eine Putzfrau zu finden. Das Haus sollte ihrer Meinung nach mindestens zwanzig Minuten entfernt vonTom und Jane liegen (man könne auch zu nah beieinander wohnen, meinte sie). Ach ja, und keine Teiche oder Bäche im Garten – für Kinder viel zu gefährlich.
»Bitte tu’s für mich, Henry. Ich sehe dich gern mit Hal; das erinnert mich daran, wie du mit Tom umgegangen bist, als er klein war.«
»Ich hoffe, ich stelle mich jetzt geschickter an als damals.«
Henry machte sich am Freitagnachmittag auf den Weg nach Norfolk und erfuhr, dass Tom und Jane bereits für den nächsten Morgen einen Termin für eine Hausbesichtigung vereinbart hatten. Das Anwesen hieß White Horse Farm; Henry war erleichtert, als er feststellte, dass der Name irreführend war. Das Haus stand in einem gerade mal anderthalb Hektar großen, nach Süden gelegenen Garten; Felder und Wälder waren bereits vor Jahren verkauft worden. Zwei aus Ziegeln und Flintstein gemauerte Scheunen umstanden den alten Hof, der nun mit Gras begrünt und mit drei ordentlichen Reihen Haselnussbäumen bepflanzt war.
Beim Abendessen sahen sie sich die Broschüre des Maklers an; Hal betrachtete den Plan und zeigte auf das Zimmer, in dem er übernachten wollte. Der Termin zur Hausbesichtigung war zwischen neun Uhr dreißig und zehn Uhr fünfzehn. Übers Wochenende sollten zwanzig Interessenten vorbeischauen, zwölf hatten das Haus schon gesehen. Dem Makler zufolge überlegten mehrere, ein Angebot einzureichen. North Norfolk war angesagt,und die Grundstückspreise hatten bereits ein Niveau erreicht, das unter den Bewohnern des Landstrichs für Unruhe sorgte.
Das Haus hinterließ ein angenehmes Gefühl. Es lag etwas zurückgesetzt von der Straße und wurde von einer gut geschnittenen Buchenhecke geschützt. Zwei große Eichen und eine Esche verliehen dem Garten Würde. Rosen kletterten die Wände der beiden Scheunen hinauf und würden bald blühen. Ihrem Wuchs nach glaubte er, es handelte sich um eine ›Albertine‹ und eine ›New Dawn‹. Auf den leicht abfallenden Wiesen standen alte Apfelbäume, ein oder zwei davon blühten noch, und alle versprachen Schatten im Sommer und reiche Ernte im Herbst.
Im Haus waren die Zimmer angenehm ohne strenge Ordnung auf zwei Etagen verteilt. Im Wohnzimmer gab es zu zwei Seiten Fenster und an den richtigen Stellen Bücherregale.
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