Die spaete Ernte des Henry Cage
Arbeitsklima im Augenblick ein großes Problem darstellt. Sicherlich gibt es Wachstumsbeschwerden, und vielleicht ist eine kurze Inventur eine gute Idee, aber ich finde, das sollten wir intern regeln. Ich schlage vor, wir reden mit den Abteilungsleitern, wie du vorgeschlagen hast, Charles, und dann könnte ich, sagen wir mal, fünfundzwanzig willkürlich ausgewählte Gespräche führen. Am Ende kommt es auf dasselbe hinaus, und wir haben unterwegs noch dreißig Riesen gespart.«
»Und du glaubst, die Angestellten werden offen zu dir sein? Glaubst du, sie werden auf die angebotene Anonymität vertrauen? Glaubst du, wir finden die Wahrheit heraus, wenn du die Gespräche führst?«
»Ja, das glaube ich.«
Bei der Antwort hatte Ed allerdings nicht Henry angeschaut, sondern Charles.
Henry begriff, dass die beiden sich zuvor abgesprochen haben mussten; Ed war zu schnell mit den Einzelheiten seines Vorschlags zur internen Revision herausgerückt,doch zu diesem Zeitpunkt hatte Henry nicht die ganze Bedeutung von Eds neuer Unabhängigkeit erkannt. Zwei Wochen später war Henry kaltgestellt worden, und ihm war alles klar. Ed war bei den vorangegangenen Gesprächen über Henrys Abfindung einbezogen gewesen. Bei dem Vorstandstreffen hatte er bereits gewusst, dass Henry kein Mitspieler mehr war – er war zu einem Mann ohne Einfluss geworden.
Nun, keine sechs Monate später, wurde der neue Personaldirektor langsam ungeduldig. Das verdammte Frauenzimmer kam zu spät, kein gutes Zeichen, aber Roy hatte darauf bestanden, dass sie ihm auf keinen Fall durch die Lappen gehen durfte.
Rosemary Middleton hatte sich ihren guten Ruf in Nordamerika erarbeitet, als sie einem früheren Telefonmonopolisten dabei geholfen hatte, mehr als nur den gerechten Anteil am kürzlich liberalisierten Markt zu behalten. Die Taktik hatte darin bestanden, der Öffentlichkeit einen Schwall an Sonderangeboten und neuen Tarifen zu offerieren und sich dann auf die allgemeine Verwirrung und Trägheit der Kunden zu verlassen. Angesichts der verwirrenden Auswahl hatte die Mehrheit der Leute gar nichts gemacht. Die neuen Telefongesellschaften wurden trotz ihrer niedrigeren Preise verschmäht. Die Anhänger des freien Marktes, die das Zerschlagen des Monopols gefordert hatten, konnten nichts dagegen unternehmen. Die Kunden zu verwirren war auf dem freien Markt nicht verboten.
Und Rosemary, so Roy, hatte das Drehbuch dazu geschrieben.
Eds Handy klingelte.
»Ed? Es tut mir sehr leid. Irgendein hirnloser Penner hat beschlossen, sich in South Kensington vor den Zug zu werfen, nichts geht mehr. Ich werde mir oben gleich ein Taxi nehmen. Ich sollte es in zehn Minuten schaffen.«
Ed winkte nach einer Kellnerin; er würde den Teufel tun und warten.
»Was darf ich Ihnen bringen, Mr Needy?«
Und so geschah es, dass Maude Singer – nach einem offiziellen Gespräch und einem weiteren Mittagessen im Connaught – ein zweites Mal für Henry Cage & Partners arbeitete, diesmal als persönliche Assistentin des neuen Direktors der Personalabteilung Großbritannien und Europa.
Sie machte sich nicht mehr über Eds Gewohnheit lustig, den Kopf im Gespräch zu neigen, ganz im Gegenteil; sie redete sich ein, das eher recht anziehend zu finden.
30.
Lieber Jack,
es wundert mich nicht, dass Nessa die Hauptrolle in dieser Show spielt. Das hat sie schon immer getan. Wenn wir in London spazieren gingen, bemerkte ich mit einem Mal, dass sie nicht mehr an meiner Seite war. Dann sah ich mich um und entdeckte sie einige Meter hinter mir, wie sie sich mit einem Ladenbesitzer oder einem Nachbarn unterhielt oder mit einem Fremden, der nach dem Weg gefragt hatte. Wusste Nessa den Weg nicht, dann schnappte sie sich den nächsten Passanten, und schon bald hatte sie eine kleine Gruppe um sich geschart, die alle helfen wollten.
In unserem Viertel konnte man keine paar Meter gehen, ohne dass ihr jemand zuwinkte – nicht nur die Passanten, auch die Autofahrer und Radler. Sie kannte all die Straßenkehrer, Hundesitter, Müllmänner, Postboten und Gärtner – ja selbst die Handwerker in anderer Leute Häuser. Zog jemand neu zu, erhielten sie von ihren Immobilienmaklern den Rat, doch
Nessa zu fragen, wenn sie eine Haushaltshilfe suchten, einen Fensterputzer oder wenn sie etwas über die örtlichen Geschäfte erfahren wollten. Sie war der Fixstern in unserem kleinen Universum. Und das hatte nichts damit zu tun, dass sie von zu Hause aus arbeitete; es hatte damit zu tun, dass sie Nessa war. Das
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