Die spaete Ernte des Henry Cage
frühestmögliche Termin war um siebzehn Uhr dreißig. Andererseits gab es auch eine Ambulanz in Lake Worth, etwa zwanzig Minuten vom Hotel entfernt.
Laura von der Rezeption empfahl ihm die Ambulanz.
»Wenn Sie sofort fahren, sollte noch nicht allzu viel los sein. Sie öffnet um neun.«
Die ambulante Klinik befand sich in einem modernen Backsteingebäude in einer nichtssagenden Gegend voller Tankstellen und kleiner Einkaufszentren, etwas versetzt von der Straße. Henry betrat ein Großraumbüro mit einem Wartebereich links von der Tür. An der Rezeption saß eine Frau mit roten Haaren und tippte auf einer Tastatur. Sie bat Henry, sich einzutragen. Es war Viertel nach neun, und schon jetzt befand sich deprimierend viel Tinte auf dem Formblatt.
»Nehmen Sie Platz, wir rufen Sie dann auf.«
Es warteten bereits etwa ein Dutzend Patienten. Als Henry sich hinsetzte, starrten sie ihn an; erst da ging ihmauf, dass der Grund für seinen Besuch deutlich zu sehen war.
»Es ist nicht ansteckend«, sagte er.
Der Mann neben ihm stand auf und suchte sich einen anderen Platz.
Henry schlug sein Buch auf.
»Ich glaube, das ist nur ein Hitzeausschlag.«
Henry sah auf. Eine Frau lächelte ihn an. Sie war mittleren Alters, trug eine Trainingsjacke und Khakishorts. Ihre Beine waren mollig, und Henry sah, dass eins ihrer Knie nette Grübchen hatte. Das andere Knie steckte in einem Schutzpolster. An der Rückenlehne ihres Stuhls standen zwei Krücken.
»Ich bin wegen meiner Tochter hier.«
»Ah, ich verstehe.«
Auf dem Platz neben ihr saß ein Mädchen. Henry schätzte sie auf etwa fünfzehn. Sie trug einen schwarzen Bodysuit zum Tanzen, darüber graue Stulpen. Ihre Haare waren auf ganz klassische Weise nach hinten aus der Stirn gekämmt. Sie saß kerzengerade auf dem Stuhl, nicht hübsch, aber korrekt. Immer mal wieder zog sie die Beine bis an die Brust und streckte sie.
Die Mutter rutschte auf ihrem Stuhl herum und sprach durch den Raum mit der Rezeptionistin.
»Ich will nur sichergehen, wissen Sie. Gestern konnte sie nicht gehen – und heute will sie zum Vortanzen. Ich will nicht ihre ganze Karriere gefährden – vielleicht ist es ja ein Haarriss.«
Kurze Zeit später wurden sie ins Behandlungszimmergebeten. Die Tänzerin schwebte wundervoll aufrecht dahin, die Mutter schaukelte an ihren Krücken hinterher.
Gerade als die beiden im Behandlungszimmer verschwanden, betrat ein untersetzter Mann die Ambulanz. Er trug Shorts, T-Shirt , Ringelsocken und Turnschuhe, die typische Kleinkindausstattung, auf die ältere Männer in Florida gern zurückgreifen.
Der Mann sprach mit der Empfangsdame über den Tod eines örtlichen Stock-Car-Rennfahrers. Sie schüttelte mitfühlend den Kopf. »Mein Mann hat den Burschen vergöttert. In meinem Wohnzimmer steht ein ganzer Altar für ihn.«
Zwanzig Minuten später wurde Henry aufgerufen. Der Arzt war ein Mann mit sanften Augen und schütterem Haar, und er trug einen Schnurrbart, der nicht dazu passte. Henry erinnerte er an Edward Elgar; sein Name war Dr. Fernando Valdes. Er bat Henry, den Gürtel zu öffnen, sein Hemd auszuziehen und sich hinzulegen. Die Untersuchung verlief freundlich und effizient.
»Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?«
»Nein.«
»Nun, ich glaube, es ist nichts Ernstes. Irgendeine Art von Allergie. Wir können ein paar Untersuchungen durchführen, aber da Sie ja wohl nicht allzu lange bleiben, hat das nicht viel Sinn. Ich kann Ihnen etwas gegen den Juckreiz geben. Die roten Flecken sollten in zwei, drei Tagen abgeklungen sein.«
Der Arzt setzte sich an seinen Computer und schrieb ein Rezept aus.
»Machen Sie Urlaub?«
»Nein, ich bin zu einer Beerdigung hier.«
»Nun ja, solche Flecken können auch durch Stress ausgelöst werden. Vielleicht reagieren Sie allergisch auf den Tod.«
»Meine Frau meinte immer, ich würde allergisch auf das Leben reagieren.«
»Dafür kann ich keinerlei Hinweise finden.«
Die freundliche Bemerkung des Arztes traf Henry ganz unvorbereitet. Er hatte seit Nessas Tod nicht mehr geweint, doch nun flossen die Tränen. Henry saß auf der Liege und fummelte an seinen Hemdknöpfen herum. Seine Finger waren feucht, er konnte nichts sehen, und er bekam die Knöpfe nicht durch die Löcher. Der Doktor legte das Rezept und eine Packung Taschentücher neben ihn.
»Lassen Sie sich Zeit.«
Dann hörte Henry, wie sich die Tür schloss.
Als er fünf Minuten später ging, war der Doktor nirgendwo zu sehen. Die Rechnung betrug achtundachtzig
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