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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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sie mir nicht einfach eine satte Prämie wie bei Goldman Sachs?«
    »Ich schätze, sie wollen dir das Gefühl geben, Teil der Firma zu sein. Du weißt schon – Eigentum, Familie, Zugehörigkeit.«
    Maude plapperte irgendetwas nach, das sie mal von Henry gehört hatte, aber Ed tröstete das nicht.
    »Ich bin emotional nicht geeignet für Vergütungen in Aktien. Ich mache mir zu viele Sorgen. Zwanzigmal am Tag schaue ich mir die Aktienkurse im Computer an. Es ist ein Albtraum.«
    Maude bemerkte, wie er auf die Uhr sah. Jeden Augenblick würde er sich erheben und als Erster ins Bad gehen. Er würde fünfundzwanzig Minuten brauchen, alle Handtücher zusammenlegen und alle Oberflächen trocken wischen. Benutzte er das Klo, dann faltete er das Ende des Toilettenpapiers zu einer Spitze um. Maude war noch nie in seiner Wohnung gewesen, doch sie stellte sie sich als Tempel der Pingeligkeit vor.
    Einmal die Woche, dienstagnachts, schlief Ed mit ihr (Mittwoch war der einzige Tag, an dem er nicht morgens um halb sieben Uhr einen Termin im Fitnessstudio hatte). Er war nicht verheiratet, hatte keine Freundin, und sie beide waren diskret und wollten nichts weiter voneinander. Eine Beziehung ohne Gefühlsdramen. Ed war höflich und aufmerksam, aber offenkundig bewunderte er sie nicht. Es war wie zu Hause Wohnen, nur mit wöchentlichem Sex als Extra. Maude stellte überrascht fest, dass sie mit diesem Arrangement glücklich war. Für den Augenblick zumindest.
    »Bis später«, sagte er und ging hinaus.
    Maude trat ans Fenster und schaute zu, wie er die Straße überquerte. Zum Glück war sein Wagen nicht zugeparkt worden.

    Ed war im sechsten Stock mit Charles, als Maude ins Büro kam. Sie kochte sich einen Kaffee und ging in Eds Besprechungszimmer, wo die Zeitungen auf dem Tisch lagen. Als Erstes ging sie für ihn die Presse durch und kennzeichnete mit einem gelben Marker alle Artikel, in denen die Firma, ihre Klienten, die Geschäftszweige der Kunden oder die Konkurrenz erwähnt wurden. Sie markierte auch alle relevanten Personalveränderungen. Maude genoss diese Aufgabe, und im Laufe der Wochen hatte sie Eds Lesehorizont erweitert, indem sie Gesellschaftstrends hervorhob, bedeutende Auszeichnungen, Todesfälle und Hochzeiten, ja sogar ab und zu ein wenig Klatsch über Personen, die er vielleicht kannte. Ed wusste das zu schätzen.
    An diesem Morgen hielt Maude sich nicht lange mit der Klatschpresse auf. Sie nahm die
Times
und hoffte auf ergiebigere Beute. Auf der Seite mit den Nachrufen entdeckte sie ein Foto von Henry, der seinen Arm um die Schulter einer lachenden, dunkelhaarigen Frau gelegt hatte. Das also war Nessa; sie wirkte zu nett, um jetzt schon den Löffel abzugeben. Armer Henry. Maude las den Nachruf und umrahmte ihn gelb.

38.
    Henry versuchte, während des Fluges zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Er legte das Buch beiseite und nahm das Bordmagazin. Auf dem Titel war ein Foto von Venedig. Er hörte ein kurzes Wimmern und sah sich um, bevor ihm aufging, dass es ihm selbst aus der Kehle gedrungen war. Es waren nur noch vier weitere Passagiere in der Kabine, alle schliefen. Niemand hatte seinen ungewollten Laut gehört. Wieder sah er sich das Titelbild an. Eigentlich war es ein Sonnenuntergang, doch in den Schatten im Vordergrund hatte er ein Restaurant wiedererkannt, dessen wenige Tische am Wasser standen.
    Nessa und er hatten dieses Restaurant geliebt. Das war der beste Platz in ganz Venedig, um der Sonne beim Untergehen zuzuschauen. Manchmal glitt während des Essens ein Kreuzfahrtschiff vorbei und verdunkelte selbst die großen Lagerhäuser auf der anderen Seite des Giudecca-Kanals. Die Passagiere hatten eine fabelhafte Sicht auf die Stadt und säumten alle Decks; manche winkten denRestaurantgästen unten zu. Nessa winkte stets zurück, doch nur ein einziges Mal schaffte sie es, Henry ebenfalls dazu zu bringen. Er hatte die Hand gehoben, als wolle er einen Ball fangen. Er erinnerte sich noch an ihr Lachen. Ein Gruß ohne Gefühl, hatte sie es genannt – nicht viel besser als ein behandschuhter Händedruck.
    Das Restaurant wurde von einem jungen Ehepaar geführt. Sie kochte, er kümmerte sich um die Gäste. Das Essen war ausgesprochen köstlich. Gegen Mittag machte ein Fischer sein kleines Boot nur wenige Meter vor der Restauranttür fest, das Paar kam an die Kaimauer und wählte den Fisch für die Abendkarte aus. Die Karte war handgeschrieben und änderte sich ständig. Serviert wurde entweder, was

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