Die spaete Ernte des Henry Cage
auch, da bin ich sicher, aber ich habe beschlossen, das Haus zu verkaufen. Ich werde nach Norfolk ziehen. Mein Sohn und seine Frau leben dort – und mein Enkelsohn.«
Cummings bemerkte, wie Henrys Stimme weich wurde, als er seinen Enkel erwähnte. »In der Zwischenzeit hoffen wir, dass unser Mann sich meine Warnung zu Herzen nimmt. Ich wünsche Ihnen eine schnelle Abwicklung des Verkaufs und ein friedlicheres Leben auf dem Lande.«
Cummings stand auf und streckte Henry die Hand hin. Das Gespräch war beendet.
Als Henry ging, tastete er nach dem Briefumschlag in der Innentasche seines Jacketts. Er hatte Cummings die Polaroids geben wollen, aber es war nicht notwendig gewesen, und er war froh darüber, dass ihm die Peinlichkeit einer Erklärung erspart geblieben war.
Henry beschloss, auf dem Heimweg beim John Sandoe Bookshop in der Nähe der King’s Road vorbeizugehen. Wie alle Buchhandlungen, die er mochte, war auch diese klein, intim, ein Wunder an Verdichtung, Bücher überall. Auf der Treppe zur Taschenbuchabteilung stapelten sich die Bücher und ließen nur noch wenig Platz (es gab das Gerücht, dass niemand mit Schuhgröße 44 es jemals nach oben geschafft hatte).
Der Inhaber bestellte anscheinend nur Bücher, die Henry auch lesen wollte, und voller Erwartung, welche Überraschungen ihn wohl auf den Tischen erwarteten, ging er schneller. Er wurde nicht enttäuscht und stöberte eine halbe Stunde lang, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht den Stöbernden neben sich zu drängen, wenn er von einem Stapel zum nächsten ging. Gute Manieren sind in Buchhandlungen selbstverständlich. »Sie haben nicht vielleicht ein Exemplar von …« Der Umgangston ist stets höflich und rücksichtsvoll. Zwischen den Buchdeckeln mag es Leidenschaft geben, Galle, Chaos und Mord, doch an den stillen Orten, an denen die Bücher auf ihr Schicksal warten (Zustimmung oder Gleichgültigkeit) ist alles ruhig. Auf Henry hatten Buchhandlungen stets stärkend gewirkt, und in dieser Stimmung kaufte er Thom Gunns neuesten Gedichtband und verließ den Laden.
Es war kurz nach vierzehn Uhr, auf der King’s Road herrschte reger Betrieb. Eine junge Frau schnitt ihm den Weg ab und schoss durch die offene Tür in einen Body Shop. Henry erkannte sie: Es war die Freundin des Schlägertyps; sie war wohl zu spät aus der Mittagspause zurück, nahm er an. Henry folgte ihr in den Laden und sah noch, wie sie durch die Mitarbeitertür verschwand. Er wartete und tat so, als interessierte er sich für die Auslage an Peelingschwämmen. Die Verpackung informierte ihn darüber, dass sie »auf raffinierte Weise aus Plastikflaschen recycelt« worden waren. Henry blickte auf, die junge Frau war wieder im Laden; sie trug ein schwarzes Body-Shop- T-Shirt und stand hinter der Kasse. Es gelang ihm nicht, zu übersehen, wie wunderbar ihre Brüste denen auf den Fotos entsprachen, welche in seiner Jackentasche steckten. Er drehte sich um und ging auf sie zu.
40.
Anders als seine Eltern glaubte Hal an den Himmel.
Eines Morgens vor dem Unterricht hatte Miss Martha ihm gesagt, seine Großmutter habe solche Schmerzen gehabt, dass Gott sie zu sich in den Himmel geholt habe, um sich um sie zu kümmern. Hal war das ganz plausibel erschienen. In seiner Welt kümmerten sich die Erwachsenen um die Kinder, und Gott kümmerte sich um die Erwachsenen.
Nach der Schule hatte er seine Mutter gefragt, ob sie auch glaube, dass Oma im Himmel sei.
»Vielleicht schon.«
Jane wollte ihren Sohn trösten, aber getreu ihrer eigenen Ungläubigkeit hatte sie ihm nur Unverbindliches bieten können. Sie hätte Hal gern die Wahrheit gesagt: Seine Großmutter war krank gewesen und gestorben, und er würde sie niemals wiedersehen – nirgendwo.
Tom fand solche Ehrlichkeit sinnlos brutal und war mit einem warnenden Blick dazwischengegangen.
»Natürlich ist sie im Himmel – ganz bestimmt.«
Aber es war zu spät. Hal wusste, was bei seiner Mutter »vielleicht« hieß. Es hieß, dass sie vielleicht doch nicht an den Strand gingen. Es hieß, dass er vielleicht doch kein Eis bekam. Es bedeutete, dass seine Oma vielleicht doch nicht im Himmel war.
Das beunruhigte ihn, wie er so darüber nachdachte. Miss Martha war Lehrerin, er sollte ihr also glauben, aber er wusste auch, dass seine Mutter nicht log. Das war alles sehr verwirrend – wenn Oma Nessa nicht im Himmel war, wo war sie dann?
In den folgenden Tagen war er stiller als sonst und machte es sich nach der Schule gern auf dem Schoß
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