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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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die Theke gelegt.
    »Es tut mir sehr leid, wirklich.«
    Draußen auf der Straße war Henry in Hochstimmung gewesen. Die Geschichte war aus und vorbei. Er würde aus London wegziehen, und wenn die junge Frau auch nur einen Funken Verstand hatte, würde sie diesen Colin Soundso verlassen und ihr Leben auf die Reihe bekommen. Je schneller er das Haus in Chelsea auf den Markt brachte, desto besser. Darum würde er sich nach dem Wochenende kümmern.

    Jetzt war Henry also hier in der klaren, gesunden Luft Norfolks. Er ging den grasbewachsenen Hang zum Haus hinunter.
    Nessas Koffer waren akribisch genau organisiert. In jedemlag ein Inhaltsverzeichnis, und jedes einzelne Stück – gleich ob Tagebuch, Akte, Filmskript, Fotoalbum oder Band – war beschriftet.
    Als Erstes schaute Henry sich die Videokassetten an. In ihren Filmen hatte Nessa stets als Interviewpartnerin vor der Kamera gestanden. Das war eine ihrer Stärken gewesen. Jeder einzelne Dokumentarfilm war ein persönliches Vermächtnis. Man hörte ihre Stimme, sah ihr Gesicht, ihre Wahrheit erfüllte jedes einzelne Bild.
    1980 hatte sie in einem Frauengefängnis drehen dürfen;
The Girls Inside
hatte über einen Zeitraum von drei Jahren das Leben der Insassinnen im Zellenblock C dokumentiert. Mit dieser Dokumentarserie hatte sie sich einen Namen gemacht. Nessa hatte den Auftraggeber überredet, sie die Filme in Schwarz-Weiß auf 1 6-mm -Film drehen zu lassen. Man hielt das allgemein für eine ziemliche Sensation, denn damals galt das altmodische Filmmaterial bei der BBC nicht mehr als zeitgemäß. Magnetbänder waren billiger und vielseitiger, aber Nessa hatte wegen der besonderen Qualität auf Film bestanden und darum gekämpft, geschmeichelt und gebettelt.
    In ihrer Darstellung des Gefängnisalltags war sie ehrlich gewesen, und ein Großteil der Aufnahmen hatte sehr trostlos gewirkt, doch durch extreme Nahaufnahmen und lange Einstellungen hatte sie einen eigenen Stil entwickelt, durch den sich die Filme weit abhoben von den konventionellen Reportagen, in denen die Filmemacher stille Beobachter hinter der Kamera waren.
    Viele der weiblichen Insassen waren jung, und Nessahatte deren Verletzlichkeit eingefangen. In einem der Filme hatte Nessa eine Frau begleitet, die im Gefängnis ihr Kind zur Welt gebracht hatte; ihr Eingesperrtsein wirkte noch berührender, weil es wirklich greifbar war. Schon der jeweilige Vorspann hatte den allgemeinen Ton der Filme vorgegeben. Er lief zu Bildern des Gefängnishofs. Nessa hatte Vogelfutter auf dem Boden und den Simsen der Gitterfenster ausgestreut. Während die Gefangenen in ihren Zellen schliefen, sah man, wie die Vögel auf den Hof geflogen kamen und frei wieder davonflatterten. Eine sinnfällige Metapher, aber Nessa hatte zudem auch noch Glück gehabt, denn in der Nacht vor den Filmaufnahmen hatte es angefangen zu schneien, und es schneite noch immer, als die Kamera lief. Nessa hatte die Kappe von der Linse genommen, und das Glas bekam vom Schnee Schlieren, einen Vorhang aus Tränen.
    Henry hatte vorgeschlagen, sie könne doch ein Stück von Bill Evans als Hintergrundmusik für die Eingangssequenz nehmen,
Danny Boy
, aufgenommen im April 1962; es war das erste Mal gewesen, dass Evans sich nach neun Monaten wieder an ein Klavier gesetzt hatte. Evans hatte um Scott LaFaro getrauert, den Bassisten des ersten Bill Evans Trios, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Die Session im April war als Einführung des neu verstärkten Trios gedacht gewesen, doch dieses Stück blickte noch einmal zurück. Es war einfach ein Klagelied für Scott.
    Bei der Aufnahme spürt man den Kummer, während Evans langsam die vertraute Melodie anspielt. Dabei gehter so zögernd vor, dass man sich fragt, ob er es überhaupt noch schafft. Immer wieder hat man den Eindruck, er hält den Ton zu lange, und dann – und dann –, gerade, wenn man denkt, er hat endgültig den Faden verloren, fällt der Ton, genau richtig und genauso gewollt wie ein Zögern in der Liebe.
    Die Mischung war perfekt gewesen; Nessa hatte hart darum gekämpft, die Eingangssequenz so lang lassen zu dürfen, bis sich in der Musik eine passende Stelle für eine Unterbrechung fand. Die Einstellung dauerte zwei Minuten und vierunddreißig Sekunden, reinster Luxus, aber der sanft fallende Schnee und die Musik waren wunderbar aufeinander abgestimmt, und die Wirkung war herzzerreißend. Henry schaute sich die Filme drei Stunden lang an, spulte aber zu den Sequenzen vor, in denen

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