Die spaete Ernte des Henry Cage
es frisch aus dem Meer gab, oder was auf dem Markt unwiderstehlich gewesen war.
Henry hatte mal einen Wirtschaftsvortrag rund um dieses Restaurant gehalten. Er drehte sich um eines seiner Lieblingsthemen. Er glaubte, dass gutes Wirtschaften ein Willensakt war und dass der Wunsch zur Exzellenz konstant aufrechterhalten werden musste. Firmen verloren nicht über Nacht ihre Energie und Integrität. Beides nahm nach und nach ab. Ein kleiner Einschnitt hier, ein Kompromiss dort, und bevor man es sich versah, war man Mittelmaß.
In einem Unternehmen stand die Qualität stets unter Beschuss, vor allem in Wachstumszeiten. In dem Vortrag hatte Henry das Restaurant gezeigt, wie es war, und hatte dann skizziert, wie leicht es diese Eigenart durch eine Reihe von scheinbar rationalen Managemententscheidungenhätte verlieren können. Er hatte sein Publikum Schritt für Schritt durch diese hypothetischen Veränderungen geführt – alle von ihnen logisch, alle tödlich.
Glücklicherweise hatte sich das Restaurant im wirklichen Leben eben nicht verändert. Es war bezaubernd und einzigartig geblieben.
Henry dachte an das letzte Mal, als sie beide dort gewesen waren. Der Himmel war wolkenverhangen gewesen, für Mitternacht wurde mit Sturm gerechnet. Sie hatten den Platz für sich allein gehabt und einen Tisch weit weg vom Wasser gesucht, das bald aufgewühlt sein würde. Kurz nach ihrem Eintreffen hatte sich ihnen auf der Terrasse ein Priester angeschlossen, ein älterer Herr, mit schütterem Haar, schlank, mit Halskragen und schwarzem Anzug, der eine Ausgabe des
New Yorker
in Händen hielt. Henry war interessiert gewesen.
Als der Kellner kam, wurde offenkundig, dass der Priester Stammgast war. Er wurde an den Nachbartisch von Nessa und Henry geleitet.
»Er trägt weiße Socken – wie süß«, hatte Nessa gesagt.
Der Priester hatte auf Italienisch bestellt, wechselte dann aber mitten im Satz zu Englisch über. Der Besitzer hatte ihn Padre genannt.
Der Sturm war früher gekommen als erwartet, ein Sturm ohne Regen, wie sich herausstellte. Beim ersten Blitz hatte der Priester laut zu zählen begonnen. Er kam bis acht, dann donnerte es – ein tiefes Grummeln, dann drei scharfe Schläge, fast über ihren Köpfen.
»Gottes Artillerie«, hatte er gesagt und seinen Stuhl umgedreht, um besser mit ihnen reden zu können. »Aber das sollten wir aussitzen. Es wäre eine Sünde, ein solches Essen zurückgehen zu lassen.«
Er hatte Anschluss gesucht.
»Ich bin Amerikaner, wenn auch meine Vorfahren ein bunt gewürfelter Haufen waren. Meine Mutter hatte ein Haus in Venedig, und ich bin zu ihr gezogen, als ich in Pension gegangen bin. Ich bin schon seit ein paar Jahren hier. Es gibt schlimmere Schicksale.«
»Wo waren Sie denn zuvor?«, hatte Henry gefragt.
»Erst in Washington, dann in New York; dort hatte ich recht viele Meinungsverschiedenheiten mit Kardinal Spellman.«
Er hatte ihnen erzählt, er schreibe an seinen Memoiren. Er wollte sie
Dick
nennen, weil ein konservativer Bischof mal zu ihm gesagt hatte, im Vatikan gäbe es eine Akte zu seinen liberalen Abweichungen, so dick. Dabei zeigte er zwischen Daumen und Zeigefinger einer Hand einen Abstand von gut zwölf Zentimetern.
»Ein passender Titel, nicht wahr?«
Dann hatte er von den Schriftstellern und Malern gesprochen, die er gekannt hatte, und schien sehr zufrieden, dass seine Oberen die Freundschaften mit den Reichen und Berühmten kritisiert hatten.
»Ich liebe die Reichen nicht weniger innig als die Bedürftigen. Mein einziger Leitgedanke war immer, dass die Kirche niemals jemanden zum Weinen bringen dürfe.«
Als sie aufgestanden waren und gehen wollten, hatte er sie gebeten, einen alten Priester in ihre Gebete einzuschließen.
Nessa hatte ihn zum Abschied auf beide Wangen geküsst und erklärt, dies sei das beste Essen gewesen, das sie je in Venedig gegessen hätte – und die beste Gesellschaft.
Am Sonntag waren sie zur Messe in die Chiesa delle Zitelle gegangen, eine Kirche, die nicht immer offen war und nur selten von Touristen aufgesucht wurde. Abgesehen von ihnen beiden hatte die Gemeinde aus neunzehn älteren Frauen und drei Männern bestanden.
Henry hatte Nessa zugeflüstert: »Wen Gott liebt, den ruft er früh zu sich.«
Nessa hatte nur erwidert: »Es ist nicht Gott, der die Männer zu sich ruft, es sind die jüngeren Frauen.«
Henry lehnte sich zurück. Noch in der Erinnerung brachte Nessa ihn zum Lachen. Er schloss die Augen und war bald
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