Die Spieluhr: Roman (German Edition)
selten über den Weg lief.
Die Verpflegungslage war in diesen Tagen noch nicht so dramatisch wie heute. Und da der Marquis über gute Verbindungen und ausgedehnte Jagdgründe verfügte, kamen Straßburger Gänsestopfleber und im Ofen gebratene Rebhühner und Fasanen auf den Tisch.
Es war ein herrliches Abendessen, begleitet von ausgezeichnetem Burgunderwein.
Im wesentlichen bestritten der Marquis und ich die Unterhaltung.
Reypens hatte zwar versucht, den Schloßherrn auf dieses und jenes drängende Problem im Wirtschaftsbereich aufmerksam zu machen, auch sei der Park mittlerweile in einem bedenklichen Zustand der Verwilderung, war aber barsch unterbrochen und davon in Kenntnis gesetzt worden, daß niemand derlei Dinge am Weihnachtsabend zu besprechen wünsche.
Daraufhin hatte Reypens etwas indigniert geschwiegen, und wir waren in eine Unterhaltung über Voltaires Aufenthalt am Hofe Friedrichs II. geraten, der ich einige überraschende Neuigkeiten über den problematischen Charakter des Preußenkönigs verdanke. Wußten Sie, Wilhelm, daß Friedrich seinen Lieblingsdichter, der vor ihm die Flucht ergriffen hatte, in Frankfurt festsetzen und ihn durch Beauftragte über Wochen so schikanieren ließ, bis er ihnen schließlich einen Gedichtband seines königlichen Bewunderers wieder herausgab, den jener zu vernichten wünschte …?«
Er lachte kurz auf und entzündete sich eine Zigarette.
»Nach dem Dessert«, fuhr er fort, »das aus Halbgefrorenem und kandierten Maronen bestand, gingen wir ins Kaminzimmer hinüber, wo Kaffee, Cognac und Zigarren gereicht wurden. Der Schnee, der draußen im nächtlichen Park und auf den Zweigen der hohen Tannen lag, schimmerte hell durch die Fensterscheiben. Die winterliche Stille und Behaglichkeit, die mich hier umgaben, erinnerten mich an unser verträumtes Leben im fernen Ostpreußen, an die endlosen Wintermonate und die große Einsamkeit der tiefverschneiten, lautlosen Wälder.
Die Zeit schien weggesperrt in die alte Standuhr neben der Tür und schlug und klopfte schüchtern an den Holzkasten ihres Gefängnisses. Vergeblich begehrte sie Einlaß in eine Welt, die sie nicht brauchte.
Ich fühlte mich wohl wie selten in meinem Leben.
Als ich meine Zigarre geraucht und den Stummel in den Kamin geworfen hatte, setzte ich mich an den Flügel und spielte unserem größten Feldherrn aller Zeiten zum Trotz eines der Lieder ohne Worte von Mendelssohn.
Da sah ich, wie die Augen des kleinen Amadé, der bis dahin schweigend in einem Sessel versunken vor sich hin gestiert hatte, zu leuchten begannen. Er richtete sich auf, und als ich mich nach einer abschließenden Mazurka von Chopin unter dem freundlichen Applaus der Anwesenden und des inzwischen hinzugekommenen Personals wieder auf meinen Platz begab, hielt es den Knaben nicht mehr. Er sprang auf, legte ein Kissen auf den Klavierschemel, stieg hinauf und begann ohne Umstände zu spielen.
Ich erstarrte. Zugegeben ein törichtes Wort. Aber wie sonst könnte ich das Erstaunen, ja Erschrecken beschreiben, welches mich ergriff, als ich die Töne vernahm, die dieses Kind dem Instrument mit einer Virtuosität entlockte, die selbst einen erfahrenen Pianisten beschämt hätte!?
Es war ein Stück, das ich nicht kannte und vermutlich in die späte Barockzeit gehörte.
Wir spendeten verblüfft Beifall, schüttelten dem Jungen die Hand und klopften ihm auf die Schulter. Ich fragte ihn, was er da gespielt und wo er es gelernt hätte.
Amadé lächelte die erwachsenen Menschen, die ihn umringten, unsicher an. Er schien zu schüchtern für eine Erklärung.
Sein Vater sagte, er habe es sicher irgendwo aufgeschnappt, oft säße er stundenlang allein an dem alten Cembalo im Spiegelsaal des oberen Stocks, und es sei manchmal schwer, ihn von dort ins Bett zu bringen, was die Comtesse mit einem Seufzer bestätigte.
Allerdings sei seine Urahne zu ihrer Zeit eine berühmte Cembalovirtuosin gewesen. Dieses Talent, das lange im Schoße der Familie verborgen geschlummert habe, habe sich bei Amadé wieder Bahn gebrochen.
Stolz strich er seinem Sohn übers Haar, lächelte auf ihn herab und wünschte ihm eine gute Nacht.
Der Junge verabschiedete sich, und bevor er an der Hand der Comtesse das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal zu mir um.
›Vialli‹, sagte er leise, ›ich habe das neue Stück von Giambattista Vialli gespielt …‹«
DER MAJOR SCHWIEG. Das Feuer brannte tiefer, einige der Kerzen in den Lüstern waren erloschen, und eine
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