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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tukur
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leuchtenden Augen. »Onkel Giambattista hat sie für Marie-Élisabeth geschrieben, er spielt sie auf der Violine, und wir begleiten ihn dazu. Es ist ein solcher Spaß, Monsieur, und es freut mich, daß sie Ihnen gefällt! Ich werde es den beiden unbedingt erzählen.«
    Er sah zum Major hinüber, der ihn zärtlich betrachtete.
    Plötzlich, wie es gekommen war, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und der Knabe wandte sich mir wieder zu.
    »Au revoir, Monsieur«, sagte er, »et revenez bientôt!«
    Er reichte mir seine Hand, die erschreckend kalt war, setzte die Spieluhr in Gang und stellte sie auf eine Kommode.
    Die kleine Figur begann sich zu drehen, eine Melodie erklang, zart und filigran wie der Flügel eines Schmetterlings, und der Junge lief in den anderen, dem Kamin entgegengesetzten Teil des Saales, an dessen schattigem Ende ein großes, nachgedunkeltes Gemälde hing.
    Ich konnte die Einzelheiten darauf nicht erkennen, dafür stand ich zu weit entfernt, sah aber, daß es das Portrait einer Frau war, die vor irgendeinem Hintergrunde an einem Möbelstück oder Instrument saß.
    Plötzlich fing das Gemälde an zu leuchten, ja es glühte geradezu, und mir schien, als löse sich die Frauengestalt von der Leinwand und schwebe wie ein geheimnisvolles Hologramm in den Raum. Der Knabe aber erhob sich in die Luft, und als hätte ihn das Bild mit gewaltiger Kraft angesogen, flog er wie ein Pfeil hinein und war im Bruchteil einer Sekunde verschwunden.
    Da begriff ich, daß er niemand anderer war als Amadé!
    Derselbe, der wie ein Nachtfalter durch den Bericht Jean-Lucs geflogen war, derjenige, der tief in sein Leben eingegriffen und ihm den Weg in eine andere Welt gewiesen hatte.
    Der aufgeschwemmte, einsame, zynische Schöngeist, dem Jean-Luc begegnet war, hier sah ich ihn am Ausgangspunkt seines Lebens, ein genial begabtes, durchsichtiges Kind, sechzig Jahre früher.
    Ich ging auf das Gemälde zu.
    Schon aus einiger Entfernung erkannte ich die Anmut und überwältigende Schönheit dieser Frau.
    Sie saß an einem Spinett und lächelte mich an.
    Ich spürte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog, und für einen Augenblick rang ich nach Luft.
    Als hätte ich den Kopf verloren, empfand ich nur noch meinen Körper, der sich mit einem unheilvollen Virus infiziert zu haben schien.
    »KOMMEN SIE ZURÜCK, Wilhelm!« rief der Major, und seine Stimme hatte zum ersten Mal den herrischen Ton eines Soldaten. »Schauen Sie die Marquise nicht zu lange an, es ist nicht gut für Sie!
    Seit bald drei Jahren versuche ich ihr zu widerstehen, und es gelingt mir nur, weil ich mich immer wieder zwinge, nicht auf das Bild zu sehen. Kommen Sie, und setzen Sie sich neben mich!«
    Er zeigte auf einen zierlichen, mit blaßrotem Seidenstoff bezogenen Empiresessel, dessen Armlehnen die Tatzen einer Raubkatze nachbildeten.
    Ich war zögerlich zurückgelaufen und setzte mich neben ihn an den Kamin.
    Wir schwiegen und sahen ins Feuer.
    Das Holz knisterte, und die Flammen fauchten und loderten, als wollten sie die Zeit verbrennen.
    Das Gemälde war wieder in den Schatten zurückgesunken, und nichts wies darauf hin, daß ich gerade einen ganz und gar unglaublichen Vorgang beobachtet hatte.
    Ich fragte mich, was aus dem kleinen Amadé geworden war und was wohl passieren würde, wenn die Spieluhr mit erschöpftem Laufwerk stehenbliebe.
    Als hätte er meine Gedanken gelesen, erhob sich der Major und ging zur Kommode hinüber.
    Er betrachtete die Spieluhr, die kurz aus dem Tritt gekommen, dann aber doch weitergelaufen war. Sie drehte sich ruhig im Kreise, die Musik klimperte, und die kleine Ballerina klapperte mit den Augendeckeln und hob ihre Ärmchen in die Höhe.
    Er schien zufrieden und setzte sich wieder in den Sessel neben mich.
    »Er wird nicht lange auf der anderen Seite bleiben, unser kleiner Amadé«, sagte er. »Viallis siebte Sonate, an der sie arbeiten, hat nicht die Länge seiner frühen Kompositionen. Dafür ist sie viel raffinierter konstruiert, von empfindsamer Leichtigkeit und besitzt schon jene hinreißende Selbstverständlichkeit, die für ihn später so typisch war …«
    Allmählich hatte ich genug, irgend etwas in mir reagierte gereizt. Was interessierte mich Giambattista Vialli, von dem ich im übrigen noch nie gehört hatte? Ich wollte wissen, was es mit Amadé und diesem Bild auf sich hatte und welche Rolle die Marquise spielte, deren Augen ich in meinem Rücken spürte und an die ich nun immerzu schmerzhaft

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