Die Spinne (German Edition)
nicht. Sie trat auf ihn zu und stand vor ihm, fünf Zentimeter größer als er. »Mach lieber den Mund auf, Milo, sonst bring ich dich persönlich um, das schwör ich dir.«
Teil 3
Im Haus der guten Taten
Samstag, 14. Juni bis Sonntag, 29. Juni 2008
1
Alexandra war zu müde und, obwohl sie erst zweiunddreißig war, ihrem Gefühl nach auch zu alt für so etwas. Es war halb vier an einem Samstagmorgen, sie hatte Freddy, den sie erst vor zwei Tagen kennengelernt hatte, in ihrem Bett zurückgelassen, und die abstrus teuren Kognaks vom Vorabend im Zebrano’s unterspülten noch immer ihre zerstreuten Gedanken. Scheißfamilie.
An der Goodge Street stieg sie aus dem Taxi und nahm den Fußgängerweg am Charlotte Place vorbei an verrammelten Läden bis zum Bogen der Rathbone Street. Das Duke of York rechts von ihr hatte geschlossen und nur den Gestank nach verstreuten Zigarettenkippen und verschüttetem Bier auf dem Gehsteig zurückgelassen. Links drang aus der Lobby des Rathbone Hotel schummriges Licht. Sie hatte die Kapuze ihres grauen Sweatshirts tief in die Stirn gezogen und sah aus wie ein Prolo nach einer stürmischen Nacht – eine nützliche Illusion vor allem wegen der Überwachungskameras.
Zimmer 306 , hatte er gesagt. Schau nach, ob dein Bruder da ist.
Halbbruder. Der Amerikaner Milo, der nie auf ihre E-Mails reagierte. Allerdings hatte seine Frau zu Weihnachten einen Brief geschickt – Hallo, wir kennen uns noch nicht persönlich, aber – , den wiederum Alexandra nicht beantwortet hatte.
Francisco wartete gleich hinter dem Hotel, traf allerdings keine Anstalten, sich ihr zu nähern. Sie vermutete, dass er einen toten Winkel gefunden hatte, also schlurfte sie zu ihm hinüber. Er hatte die Hände tief in die Jackentaschen gestopft, und sein spanisches Gesicht unter der schwarzen Baseballmütze wirkte benebelt und schläfrig. Unwillkürlich fühlte sie sich an seinen Decknamen erinnert: Basset. Ihr Vater benannte seine Agenten nach Hunderassen, wie um sich dadurch hündische Treue zu sichern. Als sie bei ihm war, fragte sie: »Hat er dich auch aufgeweckt?«
»Dein Vater meint, dass Schlaf überflüssig ist.«
»Wie lange brauchst du?«
»Fünf Minuten. Ich schick dir eine SMS .«
»Was mach ich in den fünf Minuten?«
»Nicht einschlafen.« Er ließ sie auf dem Gehsteig stehen und duckte sich unter einen überdachten Stellplatz neben dem Hotel. Nachdem er kurz mit seinem Werkzeug am verschlossenen Personaleingang herumgefummelt hatte, öffnete er ihn und verschwand im Haus.
Es war zu kühl, um einfach stillzuhalten, also lief sie vorbei am Newman Arms bis zu der Stelle, wo die gebogene Rathbone Street in die Percy Street mündete, und dann wieder zurück. Die ganze Zeit musste sie daran denken, welche Chancen sich ihr im Leben bieten würden, wenn sie endlich Schluss machen würde mit der Arbeit für ihren Vater. Seit zwei Jahren bezeichnete er sie jetzt schon als seine »Assistentin«, und sie wusste noch immer nicht, was das eigentlich bedeutete. Ein bisschen Kommunikation, ein bisschen Überwachung seiner Agenten und seiner Termine, ein bisschen Außendienst, wenn er es nicht schaffte oder – wie in diesem Fall – aus privaten Gründen beunruhigt war. Im Grunde die Aufgaben einer Sekretärin.
Sascha, ich weiß nur, dass jemand mit seinem alten Arbeitsnamen am Donnerstagabend dort abgestiegen ist. Ich habe selbst erst durch den Anruf eines deutschen Kollegen davon erfahren.
Erika Schwartz?
Er antwortete nicht.
Offenheit, Nana. Erinnerst du dich noch an unsere Vereinbarung?
Ja, Erika Schwartz.
Die, die Milo gefoltert hat.
Pause. Sie glaubte, dass sie guten Grund dazu hat.
Sie dachte, dass er ein junges Mädchen umgebracht hat, Nana. Ich hätte genauso gehandelt. Ich frage mich nur, warum sie dir davon erzählt hat.
Weil wir alte Gegner sind, Sascha. Das ist das Gleiche wie alte Freunde.
Ruf doch einfach in dem Zimmer an. Frag, wer dran ist.
Hab ich schon gemacht. Niemand ist hingegangen. Unsere einzigen Leute in London sind im Moment Basset … und du.
Ihr Telefon vibrierte. Sie nahm es heraus und las: ZU DIENSTEN – Franciscos Art von Humor.
Mit schnellen Schritten bog sie gegenüber dem Duke of York um die Ecke und huschte durch den Eingang des Rathbone Hotel. In der leeren Lobby waren keine Steingärten – ein Ausdruck ihres Vaters für ortsgebundene Beobachter, und auch der Empfang war unbesetzt. Um ihre Harmlosigkeit zu unterstreichen, streifte sie die Kapuze zurück und nickte
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