Die Spinne (German Edition)
überhaupt kein Interesse an Wein, Bier, Wodka oder anderen Dingen hatte, die nicht den internationalen Kampf des Proletariats betrafen. Und jetzt war von all diesem Charme und all dieser Kultiviertheit nur noch eine verrottende Leiche in einem kleinen Apartment in Brooklyn übrig.
Sie überlegte, wie mit dem Toten zu verfahren war, und kam zu dem Ergebnis, dass ausschließlich das Notwendige zu tun war: Telefone und alle Identitätshinweise mussten entfernt werden. Umsichtigerweise hatte Weaver die Klimaanlage voll aufgedreht, um den Verwesungsprozess zu verlangsamen. Das Entscheidende war jetzt, dass ihre Leute New York verließen, ohne mit dem Mord in Verbindung gebracht zu werden. Nachdem dies geschehen war, durchsuchte sie ihre Akten, bis sie auf eine Nummer stieß, die sie noch nie gewählt hatte und die sie auch jetzt nicht wählen wollte. Doch es war wichtig, dass die Nachricht von jemandem kam, der zumindest eine Ahnung davon hatte, was geschehen war. In Pullach war es 18.00 Uhr.
»Ja?«
»Spreche ich mit Alexandra Primakow? Hallo, mein Name ist Erika Schwartz. Wir sind uns einmal vor Jahren begegnet, aber Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr.«
Pause. »Ich weiß, wer Sie sind, Frau Schwartz.«
»Gut. Wo sind Sie im Augenblick?« Sie hörte Wind in der Leitung rauschen.
»Am Flughafen Genf«, antwortete Alexandra.
»Sie fliegen aber nicht nach New York, oder?«
»Doch. Ich suche nach meinem Vater, und ich kann ihn nicht erreichen.«
»Deswegen rufe ich Sie an, Alexandra. Es geht um Ihren Vater.«
Alexandra änderte ihre Pläne und landete um halb neun am Flughafen München. Erika wartete vor dem Gebäude in ihrem grauen Volvo, und als sie vor ihrem Haus in einer grünen Gegend von Pullach parkte, hatte sie Alexandra die ganze Geschichte bereits erzählt.
»Und wo zum Teufel ist Milo abgeblieben?« Abgesehen von dieser Frage gab Alexandra kaum etwas von sich, und die Worte schienen all den Zorn zu beinhalten, der in ihr brodelte.
»Das wissen wir nicht.«
»Dann muss eben ich ihn finden.« Als sie ausgestiegen war, schritt sie durch die Bäume, die Erikas Haus vor der Straße verbargen, und zog ihr Handy heraus. Erika wurde plötzlich mulmig, doch ihre Sorge galt nicht Alexandra, sondern Milo. Dieser Frau war im Augenblick wirklich das Schlimmste zuzutrauen.
Drinnen aßen sie Brathähnchen und tranken Riesling. Allmählich entspannte sich Alexandra ein wenig. »Ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Milo, meine ich. Als Teenager natürlich schon, aber dann ist er verschwunden, und die Begegnungen mit ihm in den letzten zwanzig Jahren kann ich an zwei Händen abzählen.«
Erika hatte Verwandte, von denen sie das Gleiche sagen konnte. »Er ist schwer zu fassen.«
»Was heißt das?«
Was hieß das? Das Wort war ihr einfach herausgerutscht, vielleicht wegen des Weins. »Er ist nie ganz so, wie es den Anschein hat. Und er ist unheimlich leicht zu unterschätzen.«
»Und was ist mit seiner Familie?«
Erika zuckte die Achseln.
»Alan Drummond war doch der Meinung, dass er sie schützen kann.«
»Wann hat er das gesagt?«
Alexandra antwortete nicht.
»Na ja«, bemerkte Erika schließlich. »Wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Mitarbeiter der CIA täuscht.«
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Gegen vier Uhr früh läutete Erikas Telefon, und Oskar gab eine Meldung durch, die über den Nachrichtenticker hereingekommen war. Am Donnerstagabend um acht Uhr New Yorker Zeit war ein Team von Heimatschutzagenten mit großem Getöse in das Haus 203 Garfield Place eingedrungen. Erschrockene Bewohner bestätigten, dass sie direkt in den zweiten Stock stürmten und nach lautem Rufen und Klopfen die Tür zum Apartment der Weavers aufbrachen. Die Agenten trugen einen Toten auf einer Bahre heraus, der allerdings bedeckt war, sodass niemand sagen konnte, wer da gestorben war und wie. Den Leuten vom Heimatschutz war kein Wort zu entlocken. Doch offenbar vernahmen sie die Bewohner und fragten sie nach den Ereignissen der zurückliegenden zwei Nächte. Niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Niemand außer einem Mann namens Raymond Lister, dem direkten Nachbarn der Weavers, der geknebelt und an sein Bett gefesselt aufgefunden wurde. Der Verfasser der Pressemeldung erfuhr nicht, was Mr. Lister den Agenten mitteilte, ehe er in einem Geländewagen weggebracht wurde, weil ihm die Leiterin des Heimatschutzteams, Special Agent Janet Simmons, unter Berufung auf die »nationale Sicherheit« den Zutritt
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