Die Spinne (German Edition)
eine drei Häuser entfernte Adresse das Dach des Apartments erreicht. Sollten verdächtige Aktivitäten auf der Straße gemeldet werden, stellte die Route übers Dach Plan B dar.
Jewgeni läutete nicht am Eingang, sondern benutzte den Schlüssel, den ihm Milo gegeben hatte. Er stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf und stellte fest, dass nicht abgesperrt war. Dann überlegte er es sich anders und ging weiter zur Dachtür, die er aufschloss. Ohne ein Wort näherten sich Jan und Francisco. »Es war alles ruhig«, erklärte Jewgeni, »nur bei einem Nachbarn lief der Fernseher.« Lautlos betraten sie das Apartment. Auf dem Tisch fanden sie Reste vom Abendessen, eine ungeöffnete Schachtel Kung-Pao-Huhn und daneben eine Nachricht:
SIE SIND IN SICHERHEIT
Die Wohnung war leer.
Jan und Francisco durchsuchten das Haus nach einem Wäscheraum oder einer Abstellkammer, wo die Weavers vielleicht stecken konnten. Doch sie waren spurlos verschwunden.
Zusammen verließen die drei Männer das Gebäude und setzten sich ins Auto zu Gilen, um ihm ihre Entdeckung mitzuteilen und Mutmaßungen darüber anzustellen, was passiert sein mochte. Gilen rief Erika in Pullach an, und sie hörte das Elend in Jewgenis Stimme, als er seine Befürchtung äußerte, dass die Weavers in Xin Zhus Gewalt waren. »Ich habe ihn wieder im Stich gelassen«, entfuhr es ihm sogar. Sie versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass es auch andere Möglichkeiten gab, doch er blieb bei seiner Meinung. »Während wir rumgesessen und den Eingang beobachtet haben, sind sie übers Dach gekommen. Francisco und Jan müssen sie übersehen haben.«
Sie waren sich einig, dass es keinen Zweck hatte, noch weiter am Garfield Place zu bleiben. Erika forderte sie auf, die Operation zu beenden und den Ort auf getrennten Wegen zu verlassen. Jewgeni ging nicht mit. »Milo wird bald nach Hause kommen, und jemand muss es ihm erklären.«
»Ich kann Ihnen ein paar Leute dalassen«, bemerkte sie, doch er wollte niemanden dabeihaben – auch seine eigenen Agenten nicht –, wenn es zu der unvermeidlichen Konfrontation mit seinem Sohn kam.
»Xin Zhu hat seinen Trumpf ausgespielt«, konstatierte Jewgeni. »Er wird nie wieder zu dieser Adresse zurückkehren.«
Da hatte er höchstens noch eine halbe Stunde zu leben.
Dieser ungefähre Zeitrahmen war ihnen bekannt, weil Erika zuvor ihren kranken Agenten Lester angewiesen hatte, eine kräftige Dosis Tamiflu zu nehmen und an der Penn Station zu warten. Von dort folgte er Milo Weaver zum Garfield Place, wo er kurz nach halb acht eintraf und sich draußen hinsetzte, während Weaver nach oben ging. Weaver kam erst am nächsten Morgen um sieben Uhr wieder heraus. In der Zwischenzeit hatte Gilen Lester abgelöst und drang nach Weavers Aufbruch in die Wohnung ein. Sobald er das übel riechende, kalte Schlafzimmer betreten hatte, rief er Erika an. In Deutschland war es schon nach ein Uhr Nachmittag, und sie saß wieder vor einem unberührten Salat, als er ihr die Nachricht mitteilte. Gilen glaubte genauso wenig wie Erika, dass Weaver es getan hatte, und das bedeutete, dass Jewgeni in der halben Stunde zwischen sieben und Milos Ankunft um halb acht getötet worden war. Milo hatte die Nacht bei der Leiche seines Vaters verbracht und war dann an diesem warmen Donnerstagmorgen mit unbekanntem Ziel verschwunden.
Das ist also das Ende , dachte sie. Sie erinnerte sich an die frühen Siebziger, als der KGB Kontakt zu diesen verbohrten jungen Leuten hielt, die mit zu viel Marx im Kopf und zu vielen Waffen in den Händen den dilettantischen Versuch unternahmen, den Kapitalismus in Westdeutschland zu stürzen. An der Peripherie dieses Geschehens war ihr auch Jewgeni Primakow begegnet. Später trafen sie sich schließlich in sicheren Häusern zu Gesprächen, die beiden Seiten dienten. Er brachte Weißwein mit und wartete mit genauen önologischen Beschreibungen auf, die völlig an ihr vorbeigingen. Damals bevorzugte sie Bier, doch Jewgeni beharrte darauf, dass Wein gesünder war. »Wir Russen bringen uns mit Wodka um, ihr Deutschen macht es mit Bier. Mit Wein lebt man länger.« Sie wusste noch, wie deprimiert sie gewesen war, als er plötzlich nach Moskau zurückgerufen wurde, wahrscheinlich wegen einer Affäre mit einer Amerikanerin, die sich den marxistischen Revolutionären angeschlossen hatte. Diese Niedergeschlagenheit verstärkte sich noch, als sie zum ersten Mal dem ungehobelten KGB -Offizier begegnete, der seinen Platz einnahm, ein Mann, der
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