Die Spinne (German Edition)
Kartenschlüssel, um die Tür zu öffnen. Drinnen fand er eine Frau, die mit dem Rücken zum Bett auf dem Boden saß – eine Japanerin, vermutete er nach ihren Gesichtszügen, obwohl all diese Leute Amerikaner waren – und aus einer Schulterverletzung auf den Teppich blutete. Noch bevor sie richtig überrascht sein konnte, schoss er ihr einmal in den Hals und dann ins Herz.
Der Hahn wurde zugedreht, und der Mann, dem er ins Hotel gefolgt war, erschien mit einem dampfenden Glaskrug Wasser. Dieser ging zuerst zu Bruch, durchschlagen von He Pengs schlecht gezieltem Schuss, der in die Leber des Agenten eindrang. Der Mann taumelte zurück ins Bad, und He Peng huschte ihm sofort nach. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann nach einer Pistole auf dem feuchten Waschtisch griff. Doch ein Schuss in die Brust schleuderte ihn nach hinten auf die Toilette. Nach einem weiteren in den Kopf war es vorbei mit ihm.
Was ging in diesem Moment in He Peng vor? Dachte er nur an seinen Dienst für das Volk, oder standen ihm im Angesicht eines Mannes und einer Frau, die von seiner Hand gestorben waren, die Felder von Sichuan vor Augen, die er hätte bestellen können?
Nein, He Peng war ein guter Junge, und dieser Nachmittag war der Höhepunkt seines bisherigen Lebens. Weniger überzeugt war Zhu in dieser Hinsicht von Liang Jia in Vancouver, die einen Mann im West End blutend zurückgelassen und einem mitfühlenden Unbekannten Gelegenheit gegeben hatte, ihr Opfer ins General Hospital zu bringen. Erst mit einem strengen Anruf hatte er sie dazu bewegen können, vom Flughafen ins Krankenhaus zu fahren und ihren Auftrag zu Ende zu führen.
Ein Agent verlor bei der Aktion sein Leben: Wang Shi in Buenos Aires. Zhu war sich noch immer nicht sicher, ob der Fehler bei ihm oder bei Wang Shi gelegen hatte. Er wusste nur, dass einer der Amerikaner, Wang Shis Nr. 1, tot in einem Hotelzimmer aufgefunden wurde, während die Nr. 2 mit dem Decknamen José Santiago aus Argentinien entkommen konnte. Wang Shis Leiche wurde von der Polizei entdeckt, das Gesicht entstellt von Schlägen, ein Einschussloch im linken Auge.
Jetzt, zwei Monate später, musste er sich alles erneut ausmalen, Hotelzimmer und Pistolen in Phnom Penh, in Jerusalem und Buenos Aires, in Bern, Johannesburg und Delhi. Er sah einen Ertrunkenen in Teheran, ein Krankenhausbett in Vancouver, ein weiteres in Brasília und Leichen auf Feldern in Taschkent, Kairo und Moskau. Er sah Stürze aus großer Höhe in Mexiko-Stadt, Seoul und Dhaka. Er sah Hunde, die in Tallinn an Leichen nagten, und eine aufgedunsene Tote in einem Sushirestaurant in Tokio. Er sah eine Explosion in Afghanistan. Jeder Tote hatte eine eigene Geschichte, und sein Fluch war es, sie alle zu kennen. Zusammen wurden sie zu einem großen, blutrünstigen Epos über dreiunddreißig von ihm geplante Morde in aller Welt.
Als er sich schließlich vom Schreibtisch erhob, um nach Hause zu Sung Hui zu fahren, fürchtete er, dass ihn der Gedanke an all diese Toten vielleicht nie mehr loslassen könnte. Trotzdem fühlte er sich lebendig wie schon seit Monaten nicht mehr.
Teil 2
Sandsteindschungel
Freitag, 6. Juni bis Samstag, 28. Juni 2008
1
» Wenn die Welt untergeht , wird es niemand merken, Milo.«
»Du bist betrunken.«
Alan stellte sein Heineken auf das flache Kiesdach, dann streckte er gähnend die Hände und die glühende Zigarette über den Kopf. »Noch nicht. Ich sage nur, wenn das alles zusammenbricht, wird es süß riechen. Kein Terror in den Straßen. Kein Blut, keine Hungersnot – nichts in dieser Richtung. Nur der Duft von Pfefferminze.«
»Pfefferminze?«
»Zitrone, Karamell, Jasmin, Pfefferminze – du darfst es dir aussuchen. Der nächste Tag wird aussehen wie immer, vielleicht sogar besser. Die Leute werden keine Ahnung haben, dass alles Wichtige gerade den Bach runtergegangen ist.«
Milo trank Tonicwater, sein Glas war bereits leer. Er stellte sich an die niedrige Dachumrandung des Wohnhauses, als wäre ein Sturz aus drei Stock Höhe nichts, was man fürchten müsste. »Falls du hier versuchst, besonders schlau zu klingen, dann scheiterst du kläglich damit.«
Eine seltene Brise wehte über sie hinweg. Alan saugte unbeholfen an seiner Marlboro wie der neue Raucher, der er war.
»Lass mich mal.« Milo streckte die Hand aus.
Alan gab die Zigarette weiter, und während Milo einen tiefen Zug machte, blickten sie über die Dächer hinweg zum Prospect Park. Obwohl es schon kurz vor Mitternacht war,
Weitere Kostenlose Bücher