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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Zauberer von Oz redete. Um sie herum wurde das Laub dichter, und ein näher kommender Mann sah Milo mit hochgezogener Augenbraue an und gab ihm im Vorbeigehen ein Handzeichen: drei flache Finger auf dem Herzen. Milo kannte dieses Zeichen und wusste, dass er ihm damit eine Anweisung erteilte, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, was von ihm erwartet wurde. Er griff nach Stephanies Hand, die sagte: »Nicht weggehen, Daddy!« Er wollte schneller vorankommen, doch sie ließ die Beine einknicken und rutschte lachend neben einer Parkbank auf den Boden. Sie spielte mit ihm. Ihre Aufsässigkeit versetzte ihn in Schrecken und Wut, denn jetzt fiel ihm endlich ein, was sein Auftrag war. Also hob er sie hoch und rannte mit ihr durch die Bäume, um möglichst ohne Umweg zum Ausgang zu gelangen, doch jedes Mal wenn sie die niedrigen Hecken hinter sich ließen, befanden sie sich wieder auf dem gleichen Abschnitt eines Pfades, und jedes Mal saß ein anderer Mann auf der Bank. Diese Männer trugen immer zu große Trenchcoats, während die Gegenstände in ihren Händen wechselten. Einer las eine Zeitung, der nächste redete am Handy, und der letzte schälte mit einem Messer einen Apfel. Obwohl sie kein Wort sagten, forderten sie alle das Gleiche – drei Finger ans Herz gedrückt –, und Milo lief die Zeit davon. Unausgesprochen hing die Drohung in der Luft, dass weder er noch Stephanie den Park lebend verlassen würden, wenn er ihre Forderung nicht erfüllte.
    Die Hecken zu beiden Seiten des Pfades bildeten niedrige Mauern, und er kauerte sich hinter eine, um Stephanie abzusetzen und ein wenig zu verschnaufen. Inzwischen weinte er und wollte es vor ihr verbergen, doch er wusste, dass es ihm nicht gelang. Trotzdem tat sie, als wäre alles in Ordnung. Sie stellte eine Frage nach Dorothys Kleidern, doch er verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Dann sagte er: »Daddy muss mal kurz weg, kleine Miss.« Sie wiederholte ihre Frage nach Dorothy, doch die Worte drangen nur lückenhaft und unterbrochen von unbeholfenen Pausen aus ihrem Mund, und er begriff noch immer nichts. Mit tränenerstickter Stimme sagte er: »Du wartest hier. Bin gleich wieder da.« Sie machte große Augen und nickte voller Vertrauen. Er küsste sie verzweifelt, bis sie ihn lachend wegschob. Als er sich erhob, bemerkte er Bewegung im Gebüsch, und die Bank am Pfad war leer. Er flüsterte: »Bleib hier, kleine Miss, okay?« Mit ihren rundlichen Fingern warf sie ihm eine Kusshand zu.
    Er trat um die Hecke wieder auf den Pfad und steuerte auf die Bank zu, doch dann überlegte er es sich anders und kehrte zurück, um sich daneben hinzukauern. Hätte er durch das undurchdringliche Strauchwerk greifen können, hätte er Stephanie berührt. Die Hände ans Gesicht gedrückt, wartete er. Er hörte ein leises Wispern: »Daddy?« Dann, beunruhigt: »Daddy?«
    Bewegungen. Schwere Schritte. Flüstern in einer unverständlichen Sprache, die wie Lateinisch mit slawischem Akzent klang.
    »Daddy?«
    Hemmungslos weinend, hörte und fühlte er, wie sich der Kreis der Männer um sie schloss, und ihr wiederholtes Wort wurde lauter und hysterischer, ein hohes Wimmern der Angst oder des Schmerzes, das anschwoll, bis er nach vorn stürzte. Er stürzte immer nach vorn in diesem Traum, stürzte krachend durch die stechenden Dornen der Hecke und landete auf dem feuchten Boden. Auf dem Gras war noch ihr Abdruck zu sehen, doch er war allein und wand sich vor Qual, zerrte an Brust und Bauch, um sich alle Organe herauszureißen.
    Wenn er aus diesen Träumen hochfuhr, war sein Kissen nass, und manchmal fragte Tina gereizt, warum er sie aufgeweckt hatte. Dann tappte er mit einer gemurmelten Entschuldigung in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzugießen, und danach fand er meistens keinen Schlaf mehr. Stattdessen zerpflückte er wie besessen den Traum, um eine Antwort auf die grundlegende Frage zu finden: Warum überließ er seine Tochter diesen namenlosen Schurken im Park? Natürlich war ihm klar, dass die Alternative der Tod für sie beide war, doch was wollten sie überhaupt von ihr? Er forderte Logik von seinem Traum, doch egal, wie oft der Traum sich einstellte, eine logische Erklärung hatte er nicht zu bieten.
    Die angemessenere Frage war: Warum träume ich das? Sich darauf einen Reim zu machen fiel ihm nicht schwer. Im Februar, als er noch als Tourist arbeitete, hatte er den Auftrag erhalten, eine fünfzehnjährige Moldawierin zu töten, und Gewissensbisse bekommen. Er hatte versucht,

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