Die Spinne (German Edition)
somit bereits Vergangenheit war. Es gab nur eine einzige Person, die ihm sagen konnte, ob es vorbei war, und genau darauf wartete er im Moment.
Gerade als er seine Cola leer trank, bemerkte er auf der anderen Straßenseite vor einer Duane-Reade-Filiale Chaudhurys Jeansfreund, der ihn beschattete. Es spielte keine Rolle.
Nachdem er gezahlt hatte, setzte er auf der belebten Straße seinen Weg zum Grand Army Plaza fort. Er blickte nicht zurück, sondern wartete nur am Randstein auf das Umschalten der Ampel. Er hielt sich auf der westlichen Seite des Ovals und querte hinüber zu einer dreieckigen Grasinsel zwischen dem Soldiers’ and Sailors’ Arch und der Brooklyn Public Library. Erneut schaute er auf sein Telefon – 11.04 Uhr – und drückte es ans Ohr, um ein Gespräch vorzutäuschen. Um ihn herum setzten die Autos ihre laute Stauparade fort, während er die drei erforderlichen Minuten abwartete und versuchte, an nichts zu denken.
Er ließ eine zusätzliche Minute verstreichen und kehrte um 11.08 Uhr zum Gehsteig zurück. Irgendwo über ihm war die – für ihn unsichtbare – öffentliche Webcam, und wenn Leticia ihre Mailbox so häufig überprüfte, wie sie behauptet hatte, beobachtete sie jetzt irgendwo auf der Welt mit einem Computer oder einem Smartphone, wie er aus dem Bild verschwand. Mehr musste sie nicht wissen: Er wollte mit ihr reden.
Zu Hause lag Tina auf der Couch und las eine Riesenschwarte, war aber noch nicht weit damit gekommen. »Und?«, fragte sie.
Er ließ sich neben ihr nieder und legte ihr eine Hand auf den Schenkel. »Sie wissen nichts.«
»Natürlich wissen sie was.«
Er beugte sich vor und küsste sie. »Dir kann man eben nichts vormachen.«
»Also?«
»Ich hab denen gesagt, dass ich ein paar Anrufe mache und sehe, was ich rausfinden kann, aber nicht mehr. Ihre Arbeit nehme ich ihnen bestimmt nicht ab.«
Sie starrte ihn nur stumm an, das Taschenbuch um den Zeigefinger geschlossen.
»Was ist?«
»Glaubst du, dass er tot ist?«
»Keine Ahnung.«
»Und was sagt dir dein Gefühl?«
»Ich habe ernste Zweifel.«
Schließlich legte sie den Roman auf den Tisch, und er sah, dass es Unendlicher Spaß von David Foster Wallace war. »Wie sollen wir das nur Penelope beibringen?«
»Es gibt nichts beizubringen. Noch nicht.«
»Wir können sie doch nicht einfach im Dunkeln lassen.«
»Und warum nicht?« Genau diese Frage hatte er sich auf dem Heimweg gestellt. Weshalb sollten sie mit Penelope reden, wenn nicht auszuschließen war, dass Alan morgen mit Blumen in der Hand auf ihrer Schwelle auftauchte?
»Weil ich das alles auch schon mal durchgemacht habe«, antwortete Tina. »Und ich lasse nicht zu, dass es ihr genauso geht.«
Sie meinte es ernst, und eigentlich hätte er damit rechnen müssen. Erst letztes Jahr hatte sie viele Dinge erfahren, die er ihr verheimlicht hatte, und diese Unaufrichtigkeit hätte um ein Haar das Ende ihrer Ehe bedeutet. Natürlich musste sie jetzt darauf bestehen, dass Penelope verständigt wurde. »Na gut, ich kümmere mich darum.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie vertraut dir nicht.«
»Wirklich?«
»Das darfst du nicht persönlich nehmen. Mir vertraut sie einfach mehr.«
»Dann sag du es ihr.«
»O Gott.« Sie seufzte, dann nickte sie resigniert.
Milo warf einen Blick in Stephanies Zimmer, die mit der leuchtenden PlayStation neben dem Kissen schlief. Nachdem er geduscht hatte, schlüpfte er zu seiner Frau ins Bett. Sie hatte das Licht ausgeschaltet, und als er unter der Decke lag, schlang sie ein nacktes Bein um ihn. »Vielleicht solltest du es doch machen.«
»Es Penelope beibringen?«
»Ihnen helfen. Alan war doch unser Freund.«
»Er ist unser Freund. Und er ist vollkommen durchgeknallt.« Er drehte sich zu ihr um, doch ihr Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »Der Mann will es allein mit dem Guoanbu aufnehmen – dem gesamten chinesischen Auslandsnachrichtendienst. Klingt das vielleicht normal für dich? Ich habe keine Ahnung, was er in London getrieben hat, aber es kann durchaus sein, dass er die falschen Leute provoziert hat und umgebracht wurde. Willst du wirklich, dass ich seine Spur aufnehme?«
»Wenn du es so ausdrückst …«
Doch er kannte sie zu gut, um zu glauben, dass er sie in irgendeiner Weise überzeugt hatte.
5
Am nächsten Morgen telefonierte Tina mit Penelope, um sie mit Nachdruck zum Abendessen einzuladen, und dann mit Sarah Lawtons Mutter, um zu fragen, ob Stephanie bei ihnen übernachten konnte. Im
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