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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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trampelnde Schritte laut wurden, doch dann hörte er die Stimme seines Nachbarn Raymond, der offenbar betrunken nach Hause kam.
    »Mann, der Kerl macht einen Lärm.« Tina hatte zumindest einen Teil seiner Gedanken gelesen. Dann wandte sie sich wieder Jewgeni zu. »Das klingt ziemlich hart.«
    Jewgeni zog fragend die Brauen hoch.
    »Das mit Amerika, meine ich. Hältst du uns wirklich für so naiv?«
    »Vielleicht.« Er zuckte die Achseln. »Milos Schwester Alexandra findet die meisten Amerikaner fremdenfeindlich. Diese Einschätzung teile ich nicht.«
    »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe«, stellte Tina kategorisch fest.
    »Vielleicht solltest du sie mal hierher einladen und ihr zeigen, dass sie sich täuscht.«
    Obwohl Tina Milos jüngere russische Schwestern nie kennengelernt hatte, gefiel ihr diese Idee anscheinend. Milo weniger. Er hatte dieses andere Leben so lange unter Verschluss gehalten, dass er sich auch jetzt, nachdem alles ans Licht gekommen war, noch unwohl fühlte bei der Vorstellung, Alexandra könnte in sein Zuhause hineinplatzen. Schon vor einigen Jahren hatte sie einen Anlauf gemacht und ihn bei einem Treffen in einem Restaurant aufgefordert, ihr Zutritt zu seinem Leben zu gewähren. Doch Milo hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie zwar Teil seines alten, aber nicht seines neuen Lebens war. Sie hatte das erstaunlich humorvoll aufgenommen und sogar zugegeben, dass sie sich manchmal ebenfalls wünschte, einfach einen Schlussstrich unter die Familie ziehen zu können. Glückwunsch. Es gab keine Feindschaft – weder mit Alexandra noch mit der jüngeren Natalia hatte er sich zerstritten –, doch er hatte keine Lust darauf, sein Leben durch das Hinzufügen weiterer Verwandter noch komplizierter zu machen. Jewgeni reichte ihm völlig.
    Doch nun nahm er Tinas Bedürfnis wahr: Sie wollte mehr über die Familie ihres Mannes erfahren. Daher sagte er: »Vielleicht ruf ich sie mal an.«
    Später begleitete Milo seinen Vater hinunter zur Seventh Avenue, wo Francisco wartete.
    Jewgeni schüttelte ihm die Hand. »Ich weiß, dass du das vorhin nicht ernst gemeint hast, aber du solltest deine Schwester wirklich anrufen. Sie würde sich bestimmt darüber freuen.«
    Milo nickte nur.
    Im Bett erklärte er Tina, dass er vorhatte, am Morgen nach Washington zu fahren, und dass sie Stephanie vom Feriencamp abholen musste. »Geht das?«
    »Ich finde schon eine Möglichkeit«, antwortete sie ruhig. Dann legte sie ihm die Hand auf die Brust. »Warum nach Washington?«
    Er hatte überlegt, ihr etwas von einem Vorstellungsgespräch zu erzählen, was am leichtesten gewesen wäre, doch er hatte es satt, sie zu belügen. Wenn er jetzt teilweise ehrlich zu ihr war, milderte das seine Schuldgefühle wegen der größeren Lüge, auf die sie am kommenden Abend stoßen musste, sobald Janet Simmons oder Jewgeni auftauchte, um sie und Stephanie abzuholen. »Ich bin nur einen Tag weg, um mehr über Alan rauszufinden.«
    »Jemand in Washington weiß was über ihn?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Dann war er nicht bloß verrückt, oder? Er hat mit jemandem zusammengearbeitet.«
    Er bewunderte zwar ihre intelligente Schlussfolgerung, doch in diesem Moment hätte er lieber darauf verzichtet. »Alles ist möglich.« Sicherheitshalber wechselte er das Thema. »Hat es dir gefallen mit Jewgeni?«
    »Er ist ein komischer Kauz, aber ich mag ihn. Und die Idee mit dem Urlaub in Genf finde ich wirklich toll. Du nicht?«
    »Wer fände das nicht toll?« Seine Frage war nicht ganz aufrichtig, denn bei seinem letzten Aufenthalt in Genf hatte er einen anderen Touristen überwältigt und ihn gefesselt in seinem Hotelzimmer zurückgelassen. Dieser Tourist tötete später die fünfzehnjährige Adriana Stanescu und kam bald darauf bei Xin Zhus Liquidierung der Abteilung ums Leben. Genf war so ziemlich der letzte Ort, wohin es ihn zog.

11
    Milo nahm die U-Bahn zur Penn Station und stieg in den Acela Express, der um zehn Uhr nach Washington fuhr. Dabei dachte er nicht ans Ziel seiner Reise, sondern an die Straßenecke vor dem Feriencamp, wo er sich von Stephanie verabschiedet hatte. Hatte sie seine Unruhe gespürt? War ihr die lange Umarmung aufgefallen, aus der sie sich am Ende ungeduldig befreit hatte? Er hatte ihr etwas hinterlassen wollen, ein kleines Geschenk oder ein mahnendes Wort, doch alles Ungewöhnliche konnte zu einer Katastrophe führen, und so hatte er sie mit eingefrorenem Lächeln auf dem Gesicht geküsst und sie losgeschickt.
    Die

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