Die Springflut: Roman (German Edition)
Küche zurück. Wenn Tom jetzt wieder auf die Beine kommt, werden wir uns später gemeinsam um Jackie Berglund und ihre Kundschaft kümmern, dachte sie.
Stilton sah zu Boden und merkte, dass Abbas neben ihn trat.
Beide wandten sich der Straße zu.
Olivia lag nach wie vor in Mårtens Armen. Sein Kopf war zu ihrem geneigt und seine Lippen bewegten sich. Was er ihr sagte, war nicht für die Ohren der anderen bestimmt, aber er wusste, dass es für Olivia lediglich der Anfang einer langen, melancholischen und frustrierenden Reise sein würde, die sie alleine unternehmen musste. Er würde ihr beistehen, wenn sie ihn brauchte, aber es war ganz allein ihre Reise.
Irgendwo unterwegs, an einem verlassenen Bahnhof, würde er ihr ein junges Kätzchen schenken.
EPILOG
S ie saß ruhig in der Sommernacht, einer Nacht, die keine Nacht war, sondern ein Rendezvous von Abenddämmerung und Morgengrauen, durchschimmert von jenem magischen Licht, das die Menschen aus südlicheren Gefilden im Norden so oft bezaubert. Es war sinnlich, aber Olivia nahm es kaum wahr.
Sie saß alleine in den Dünen und hatte die Beine unter das Kinn gezogen. Lange hatte sie auf die Bucht hinausgeschaut. Es war Ebbe, der Meeresgrund war bis weit draußen trocken gefallen, in dieser Nacht würde eine Springflut auflaufen. Sie hatte dort gesessen und gesehen, wie die warme Sonne unterging und der Mond seinen Auftritt mit seinem geliehenen Licht hatte, das kälter, blauer, ohne großes Mitgefühl war.
In der ersten Stunde war sie gefasst gewesen und hatte versucht, an konkrete Dinge zu denken. Wohin genau am Ufer hatte man Adelita geführt? Wo hatte ihr Mantel gelegen? Wie weit nach draußen hatten die Täter ihre Mutter gebracht? Wo war sie eingegraben worden? Da vorn? Oder dort? Es war eine Methode, hinauszuzögern, was unausweichlich kommen würde.
Dann dachte sie an ihren leiblichen Vater, Nils Wendt, der eines Nachts mit einem Trolley hierhergekommen, weit hinausgegangen und dann stehen geblieben war. Hatte er gewusst, dass seine geliebte Adelita an diesem Ort ertränkt worden war? Das musste er gewusst haben, denn warum hätte er sonst hierherkommen sollen. Olivia begriff, dass Nils Wendt den Ort aufgesucht hatte, an dem Adelita gestorben war, um dort um sie zu trauern.
Genau hier.
Und sie hatte hinter ein paar Felsen gehockt und diesen Moment beobachtet.
Sie atmete heftig ein und blickte wieder aufs Meer hinaus. Vieles ging ihr durch den Kopf, und sie versuchte, sich nicht von ihren Gedanken überwältigen zu lassen.
Die Hütte. Er war doch zu ihrer Hütte gekommen, um sich ihr Handy zu leihen. Plötzlich erinnerte sie sich an einen kurzen Moment, in dem Nils Wendt gezögert und sie mit fragender Miene angeschaut hatte. Als hätte er etwas gesehen, was er nicht erwartet hatte. Hatte er, für Sekundenbruchteile, Adelita in ihr gesehen?
Dann kamen die zweite und die dritte Stunde, als das Konkrete und die Tatsachen nicht mehr reichten, um ausreichend Widerstand zu leisten. Als das Kind in ihr lange Zeit alles beherrschte.
Bis ihre Tränen schließlich versiegten und sie die Kraft fand, wieder hinauszuschauen und klar zu denken. An diesem Ufer bin ich geboren worden, dachte sie, herausgeschnitten aus dem Bauch meiner ertränkten Mutter, in einer Nacht mit Springflut und Mondschein wie dieser.
An diesem Ort.
Sie ließ den Kopf zwischen die Beine sinken.
So sah er sie, aus der Ferne. Er stand hinter den Felsen, an derselben Stelle wie damals. Ein paar Stunden zuvor war sie an seinem Haus vorbeigegangen und nicht zurückgekehrt. Jetzt sah er sie dort fast an derselben Stelle hocken, an der in jener Nacht die anderen gestanden hatten.
Wieder hörte er das Meer.
Olivia hatte ihn nicht kommen hören und bemerkte ihn erst, als er neben ihr in die Hocke ging und sich nicht mehr rührte. Sie wandte sich ihm zu und begegnete seinem Blick. Der Junge, der alles gesehen hatte. Der Mann mit den sonnengebleichten Haaren. Sie schaute wieder hinaus. In Costa Rica hat er mit meinem Vater gesprochen, dachte sie, und hier hat er den Mord an meiner Mutter beobachtet, aber das weiß er natürlich nicht.
Irgendwann werde ich es ihm erzählen.
Gemeinsam schauten sie aufs Meer hinaus. Auf das feuchte, langgestreckte Ufer, das in Mondlicht getaucht war. Kleine, glänzende Uferkrabben liefen kreuz und quer über den Schlick wie schimmernde Reflexe in dem stahlblauen Licht. Die Mondstrahlen glitzerten in den Rinnsalen zwischen den Schlickwellen. Die Schnecken
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