Die Springflut: Roman (German Edition)
mit dem Rücken zur untergehenden Sonne, deren flache Strahlen über das Wasser der Värtafjärden glitten, die Brücke zur Insel Lidingö trafen und bis zum Park bei Hjorthagen hinaufreichten, wo sie eine Aura aus hübschem Gegenlicht um Veras Silhouette zauberten.
»Hier geht es um meine Wirklichkeit!«
Der leidenschaftliche Ton ihrer Worte hätte jede Parlamentsfraktion beeindruckt, auch wenn ihre heisere Stimme im Plenarsaal ein wenig fremd geklungen hätte. Wahrscheinlich hätte auch ihre Kleidung, zwei halbschmutzige T-Shirts in unterschiedlichen Farben und ein abgewetzter Tüllrock, Aufsehen erregt. Außerdem war sie barfuß. Aber sie stand natürlich auch in keinem Plenarsaal, sondern einem kleinen, versteckten Park in der Nähe des Värta-Hafens, und ihre Fraktion bestand aus vier Obdachlosen in unterschiedlicher körperlicher Verfassung, die auf ein paar Bänken zwischen Eichen, Eschen und Unterholz saßen. Einer von ihnen war der stille, großgewachsene Jelle, der scheinbar in Gedanken versunken abseits hockte. Auf einer anderen Bank saßen Benseman und Muriel, eine junge Fixerin. Neben ihr lag eine Plastiktüte vom Supermarkt.
Auf der Bank ihr gegenüber döste Arvo Pärt vor sich hin.
Am Rande des Parks kauerten hinter dichten Sträuchern versteckt zwei junge und schwarz gekleidete Männer, deren Blicke auf die Bänke gerichtet waren.
»Meine Wirklichkeit und nicht deren! Oder!«
Die einäugige Vera schlug mit dem Arm in Richtung eines fernen Punktes aus.
»Die tauchen einfach so bei mir auf und klopfen an meinen Wagen, ich hab mir gerade erst das Gebiss eingesetzt, und dann stehen diese Typen vor der Tür! Drei Stück! Und glotzen mich an!? Verdammt, was wollt ihr, hab ich gesagt.
Wir sind vom Ordnungsamt. Ihr Wohnwagen muss hier weg.
Und warum?
Das Gelände soll genutzt werden.
Aha, und wofür?
Eine beleuchtete Joggingstrecke.
Eine was?
Eine Laufstrecke, sie soll hier direkt durchführen.
Was soll das, verdammt noch mal? Ich kann den Wohnwagen nicht wegsetzen! Ich hab kein Auto!
Tut uns leid, aber das ist nicht unser Problem. Er muss vor nächstem Montag weg sein.
Die einäugige Vera holte Luft, und Jelle nutzte die Ge legenheit, um möglichst diskret zu gähnen, denn Vera konnte es nicht ausstehen, wenn man während ihrer Tiraden gähnte.
»Kapiert ihr?! Da stehen diese drei Typen, die in den Fünfzigern in einem Aktenschrank groß geworden sind, und erzählen mir, dass ich zum Teufel gehen soll!? Damit ein paar gemästete Idioten direkt durch mein Zuhause laufen können, um sich so ihre überflüssigen Pfunde abzutrainieren?! Kapiert ihr, warum ich so wütend bin?!«
»Ja.«
Es war Muriel, die eine Antwort zischte. Sie hatte eine ziemlich angegriffene, dünne und heisere Stimme, und wenn sie sich nicht gerade einen Schuss gesetzt hatte, war sie immer sehr zurückhaltend.
Vera warf ihre dünnen, rötlichen Haare zurück und setzte zum nächsten Wortschwall an.
»Aber es geht natürlich auch gar nicht wirklich um diese verdammte Joggingstrecke, es geht um diese Leute, die hier mit ihren kleinen pelzigen Ratten Gassi gehen und sich davon gestört fühlen, dass jemand wie ich in ihrer scheißvornehmen Gegend wohnt, weil ich nämlich nicht in ihre hübsch gepflegte Wirklichkeit passe! So sieht das aus! Die scheißen doch auf uns!«
Benseman lehnte sich ein wenig vor.
»Aber weißt du, Vera, man könnte sich doch immerhin vorstellen, dass sie …«
»Lass uns gehen, Jelle! Komm!«
Vera machte ein paar große Schritte und stieß Jelles Arm an. Bensemans Ansichten interessierten sie nicht. Jelle stand auf, zuckte kurz mit den Schultern und folgte ihr. Egal wohin.
Benseman schnitt nachsichtig eine Grimasse, er kannte seine Vera. Mit etwas zittrigen Händen zündete er sich eine leicht verbeulte Kippe an und öffnete eine Bierdose. Ein Geräusch, das Arvo Pärt zum Leben erweckte.
»Jetzt werden lustig.«
Pärt stammte aus Estland und hatte seine ganz eigene Ausdruckweise. Muriel schaute Vera hinterher und drehte sich dann zu Benseman um.
»Ich find schon, dass an dem, was sie sagt, etwas dran ist. Wenn man irgendwie nicht ins Bild passt, soll man verschwinden … ist doch so, oder?«
»Ja, das stimmt schon …«
Benseman war Nordschwede und vor allem für einen übertrieben festen Händedruck und seine schnapsmarinierten Augäpfel bekannt. Korpulent, mit einem unverkennbaren nordschwedischen Dialekt und ranzigem Atem, der stoßweise zwischen spärlich stehenden Zähnen aus
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