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Die Springflut: Roman (German Edition)

Die Springflut: Roman (German Edition)

Titel: Die Springflut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cilla Börjlind , Rolf Börjlind
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den Bettpfosten gepappt hatte, abgegangen und hatte es sich in ihren langen, schwarzen Haaren bequem gemacht. Die Lage war ernst.
    Sie sprang aus dem Bett.
    Durch die einstündige Verspätung mussten sämtliche morgendlichen Prozeduren unter Zeitdruck absolviert werden. Ihre Fähigkeit, simultan zu handeln, wurde, vor allem in der Küche, auf eine harte Probe gestellt: Die Milch für den Kaffee kochte fast über, gleichzeitig begannen die Toastbrote zu rußen, und ihr nackter rechter Fuß trat in farbloses Erbrochenes, während sie gleichzeitig am Telefon von einem unerträglich aufdringlichen Verkäufer zugetextet wurde, der sie mit ihrem Vornamen ansprach und ihr garantierte, er habe nicht vor, ihr etwas aufzuschwatzen, er wolle sie nur zu einem Kurs in Finanzberatung einladen.
    Die Lage war katastrophal.
    Als Olivia Rönning aus dem Mietshaus in der Skånegatan eilte, war sie immer noch ziemlich gestresst. Sie war ungeschminkt und hatte ihre langen Haare hastig zu etwas hochgesteckt, was an einen Dutt erinnerte. Ihre dünne Kunstlederjacke stand offen, darunter lugte ein gelbes T-Shirt hervor, das unten etwas ausgefranst war. Ihre verwaschene Jeans endete in einem Paar ausgelatschter Sandalen.
    Auch an diesem Tag schien wieder die Sonne.
    Sie überlegte kurz, für welchen Weg sie sich entscheiden sollte. Welcher war schneller? Der rechte. Sie hastete im Laufschritt los und warf am Supermarkt einen hastigen Blick auf die Schlagzeilen der Zeitungen: »WIEDER EIN OBDACHLOSER SCHWER MISSHANDELT« .
    Olivia lief weiter.
    Sie war auf dem Weg zu ihrem Auto, denn sie musste nach Sörentorp in Ulriksdal nördlich der Stadt. Zur Polizeischule. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und im dritten Semester. In sechs Monaten würde sie sich bei einem Revier in Stockholm und Umgebung als Polizeianwärterin bewerben.
    Ein halbes Jahr später würde sie dann eine fertig ausgebildete Polizistin sein.
    Etwas außer Atem erreichte sie den weißen Mustang und zog die Schlüssel aus der Tasche. Den Wagen hatte sie von ihrem Vater Arne geerbt, der vier Jahre zuvor an Krebs gestorben war. Es war ein Cabriolet. Jahrgang 1988, rote Ledersitze, Automatikgetriebe und glatte vier Zylinder, die wie ein V 8 röhrten. Viele Jahre war der Mustang der Augenstern ihres Vaters gewesen, und jetzt gehörte er ihr. Neuwertig war er nicht gerade, die Heckscheibe musste sie von Zeit zu Zeit mit Klebeband befestigen, und der Lack hatte ein paar Krat zer abbekommen. Aber bei der Hauptuntersuchung lief es fast immer tadellos.
    Sie liebte ihr Auto.
    Mit ein paar simplen Bewegungen öffnete sie das Verdeck und setzte sich ans Steuer. Dort nahm sie, nur für zwei Sekunden, fast immer das Gleiche wahr: einen Duft. Nicht den der Sitze, sondern den Geruch ihres Vaters, das Coupé roch nach Arne. Zwei Sekunden nur, dann war er verflogen.
    Sie steckte die Ohrstöpsel ins Handy, ließ Bon Iver laufen, drehte den Zündschlüssel, schaltete auf Drive und fuhr los.
    Bald würden die Sommerferien beginnen.
    *
    Eine neue Ausgabe von Situation Stockholm , der Stockholmer Obdachlosenzeitung, war gerade frisch erschienen. Nummer 166. Mit Prinzessin Victoria auf dem Cover und Interviews mit den Sahara Hotnights und Jens Lapidus. Die Redaktion in der Krukmakargatan 34 war deshalb voller obdachloser Verkäufer, die sich ihre Exemplare der neuen Ausgabe abholen wollten. Sie durften sie zum halben Preis, also zwanzig Kronen, kaufen und den Rest behalten, wenn sie ihre Exemplare absetzten.
    Ein simples Geschäft, das für viele von ihnen dennoch von entscheidender Bedeutung war. Der Erlös aus dem Verkauf der Zeitungen hielt sie über Wasser. Einige gaben den Gewinn für Drogen oder Alkohol aus, andere dafür, Schulden zurückzuzahlen. Die meisten brauchten es schlichtweg, um sich etwas zum Essen zu kaufen.
    Und um ihr Selbstwertgefühl zu stärken.
    Schließlich war es trotz allem eine Arbeit, für die sie bezahlt wurden. Sie schnorrten nicht, klauten nichts und überfielen auch keine Rentner. Das taten sie nur, wenn es richtig schlecht lief. Zumindest einige von ihnen. Jedenfalls betrachteten die meisten es als eine Frage der Ehre, ihren Job als Verkäufer gut zu machen.
    Einen ziemlich harten Job.
    An manchen Tagen standen sie zehn oder zwölf Stunden an ihren festen Verkaufsstellen und schafften es mit Mühe und Not, eine einzige Zeitung loszuwerden. Bei schlechtem Wetter und eisiger Kälte. Dann war es nicht besonders spaßig, mit leerem Magen in irgendeinen Müllkeller zu

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