Die Springflut: Roman (German Edition)
euch einen von ihnen herauspicken und eine eigene Analyse der Ermittlungen durchführen könntet. Überlegt euch, was man mit den Methoden, die uns heute zur Verfügung stehen – DNA -Technik, geographische Analyse, elektronische Abhörmethoden etcetera, etcetera – mittlerweile anders machen würde. Im Grunde ist es eine kleine Übung darin, wie die Arbeit an einem so genannten Cold Case aussehen könnte. Fragen?«
»Es ist also keine obligatorische Aufgabe?«
Olivia warf einen verstohlenen Blick auf Ulf. Er stellte immer solche Fragen, nur um eine Frage zu stellen. Åke Gustafsson hatte doch schon gesagt, dass es freiwillig war.
»Es ist vollkommen freiwillig.«
»Aber es ist schon ein Pluspunkt, wenn man es macht?«
Als der Unterricht vorbei war, ging Olivia nach vorn und nahm sich ein Exemplar. Åke Gustafsson kam zu ihr und deutete auf die Mappe in ihrer Hand.
»An einer der Ermittlungen war Ihr Vater beteiligt.«
»Wirklich?«
»Ja, ich fand es interessant, sie aufzunehmen.«
Olivia saß auf einer Bank in der Nähe des Schulgebäudes neben drei Männern, die alle schwiegen, da sie aus Bronze waren. Einer von ihnen war der Bildschöne Bengtsson, ein notorischer Knastbruder früherer Zeiten.
Olivia hatte noch nie von ihm gehört.
Die beiden anderen waren Tumba-Tarzan und Wachtmeister Björk. Im Schoß des Letztgenannten lag eine Polizeimütze, auf der jemand eine leere Bierdose abgestellt hatte.
Olivia öffnete ihre Fallsammlung. Eigentlich hatte sie nicht vor, während der Ferien für die Schule zu arbeiten, auch wenn die Aufgabe freiwillig war. Es war ihr in erster Linie darum gegangen, aus dem Gebäude zu kommen und sich Ulfs belangloses Gerede zu ersparen.
Aber jetzt war ihre Neugier geweckt.
An einer der Ermittlungen war ihr Vater beteiligt gewesen.
Schnell blätterte sie die Seiten um. Es handelte sich um sehr kurz gehaltene Zusammenfassungen. Ein paar Fakten über die Vorgehensweise, Ort und Datum, ein paar Sätze über die Ermittlungen. Mit der polizeilichen Terminologie war sie einigermaßen vertraut, da sie während ihrer gesamten Kindheit die Gespräche ihrer Eltern am Küchentisch über Kriminalfälle mitbekommen hatte. Ihre Mutter Maria war Strafverteidigerin.
Ganz hinten fand sie schließlich den Fall. Verantwortlich für die Ermittlungen war unter anderem Arne Rönning gewesen.
Kriminalkommissar bei der Landeskriminalpolizei.
Papa.
Olivia schaute auf und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Die Schule lag fast mitten in der Natur, man sah große, gepflegte Rasenflächen und schöne Wäldchen, die sich bis zum Wasser der Bucht Edsviken erstreckten. Eine außergewöhnlich friedliche Umgebung.
Sie dachte an Arne.
Sie hatte ihren Vater sehr geliebt, und nun war er tot. Er war nur neunundfünfzig Jahre alt geworden. Das war ungerecht, grübelte sie. Und daraufhin tauchten die Gedanken wieder auf, die sie so oft quälten, fast schon körperlich wehtaten und davon handelten, dass sie ihn im Stich gelassen hatte.
Während ihrer ganzen Kindheit und Jugend hatten sie eine enge und innige Beziehung zueinander gehabt, aber als er dann plötzlich krank geworden war, hatte sie ihn im Stich gelassen. Sie war nach Barcelona gegangen, um Spanisch zu lernen, zu jobben, zu chillen … Spaß zu haben!
Ich bin geflohen, dachte sie. Aber das habe ich damals nicht begriffen. Ich habe mich aus dem Staub gemacht, weil ich unfähig war zu akzeptieren, dass er krank war und sich sein Zustand verschlechtern und er tatsächlich sterben könnte.
Aber genau so war es gekommen, als Olivia noch in Barcelona gewesen war.
Sie erinnerte sich noch an den Anruf ihrer Mutter.
»Papa ist diese Nacht gestorben.«
Olivia strich sich schnell über die Augen und dachte an ihre Mutter und an die Zeit nach dem Tod ihres Vaters, als sie aus Barcelona zurückgekehrt war. Eine furchtbare Zeit. Maria war am Boden zerstört und mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt gewesen, eine Trauer, in der für Olivias Schuldgefühle und Angst kein Platz war. Stattdessen waren sie sich schweigend aus dem Weg gegangen, als hätten sie gefürchtet, dass die ganze Welt zerbrechen könnte, wenn sie einander zeigten, was sie empfanden.
Mit der Zeit war der Schmerz natürlich schwächer geworden, aber es war immer noch ein Thema, über das sie nicht sprachen.
Olivia vermisste ihren Vater sehr.
»Na, hast du einen Fall gefunden?«
Es war Ulf, der sich mal wieder auf seine seltsame Art vor ihr materialisiert
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