Die Springflut: Roman (German Edition)
kriechen und zu versuchen einzuschlafen, bevor sich Alpträume in die Gedanken drängten.
An diesem Tag jedoch wurde eine neue Ausgabe verteilt, was für alle Anwesenden normalerweise ein feierlicher Moment war, denn mit etwas Glück konnte man bereits am ersten Tag einen ordentlichen Stapel loswerden. Diesmal herrschte allerdings keine fröhliche Stimmung im Raum.
Im Gegenteil.
Es war eine Krisensitzung.
Am Vorabend war wieder einer ihrer Kameraden schwer misshandelt worden. Benseman, der Nordschwede, der so unglaublich viel gelesen hatte. Ihm waren viele Knochen gebrochen worden. Seine Milz war gerissen, und die Ärzte hatten die ganze Nacht gegen starke innere Blutungen gekämpft. Der Mann am Empfang war am Morgen im Krankenhaus gewesen.
»Er wird es überleben … aber es wird sicher noch eine ganze Weile dauern, bis wir ihn wieder bei uns haben.«
Die Anwesenden nickten kurz. Mitfühlend. Angespannt. Es war nicht das erste Mal, dass einer von ihnen in der letzten Zeit zusammengeschlagen worden war, es war bereits der vierte Fall, und die Opfer waren ausnahmslos Obdachlose gewesen. Die Taten liefen immer nach dem gleichen Muster ab. Zwei junge Burschen tauchten an einem ihrer Treffpunkte auf, suchten sich ein Opfer, nahmen es in die Mangel, filmten das Ganze und stellten es anschließend ins Internet.
Das war fast noch das Schlimmste an dem Ganzen.
Es war so unglaublich erniedrigend, als wären sie bloß Prügelknaben in einer Dokusoap über Gewalt in Filmen und Videospielen.
Fast genauso bedrückend war die Tatsache, dass alle vier Misshandelten Verkäufer von Situation Stockholm waren. War das ein Zufall? Es gab ungefähr fünftausend Obdachlose in Stockholm, aber nur ein Bruchteil von ihnen verkaufte die Zeitung.
»Picken die sich ausgerechnet uns heraus?!«
»Warum zum Teufel sollten sie das tun?!«
Darauf gab es natürlich keine Antwort, jedenfalls nicht im Moment. Aber es reichte, um die ohnehin erschütterte Schar im Raum noch nervöser zu machen.
»Also, ich habe mir Reizgas besorgt«, meldete sich Bo Fast zu Wort. Die anderen sahen ihn an. Er hielt sein Spray für alle sichtbar hoch.
»Du weißt schon, dass das illegal ist?«, wollte Jelle wissen.
»Was denn?«
»Na, so ein Spray?«
»Na und? Wie legal ist es denn, zusammengeschlagen zu werden?«
Darauf fiel Jelle keine gute Antwort ein. Er lehnte neben Arvo Pärt an der Wand. Ein paar Meter weiter stand Vera, die ausnahmsweise den Mund hielt. Als Pärt angerufen und erzählt hatte, was nur wenige Minuten, nachdem sie und Jelle den Park verlassen hatten, mit Benseman passiert war, hatte sie das völlig fertiggemacht. Wenn sie geblieben wären, hätten sie es verhindern können, davon war sie überzeugt, aber Jelle war anderer Meinung.
»Was hättest du denn getan?«
»Mich mit ihnen geschlagen! Du weißt doch, wie ich die Typen fertiggemacht habe, die in Midsommarkransen unsere Handys klauen wollten!«
»Die waren total besoffen, und einer von ihnen war ein Gnom.«
»Dann hättest du mir eben ein bisschen helfen müssen!?«
Nach dem Telefonat hatten sie sich für die Nacht getrennt, und nun standen sie hier. Und Vera war still. Sie kaufte einen Stapel Zeitungen, Pärt kaufte einen Stapel, Jelle konnte sich nur fünf Stück leisten.
Als sie gemeinsam auf die Straße hinaustraten, brach Pärt plötzlich in Tränen aus. Er lehnte sich gegen die raue Fassade und hielt sich eine schmutzige Hand vors Gesicht. Jelle und Vera betrachteten ihn. Sie begriffen, was in ihm vorging. Er war dort gewesen, hatte alles gesehen und trotzdem nichts tun können.
Vera legte behutsam einen Arm um Pärt und zog seinen Kopf auf ihre Schulter. Pärt war ein zerbrechlicher Mann.
Eigentlich hieß er Silon Karp, stammte aus Eskilstuna und war der Sohn zweier estnischer Flüchtlinge, aber während eines nächtlichen Heroinrausches auf einem Dachboden in der Brunnsgatan war sein Blick zufällig auf eine alte Zeitung mit dem Bild des scheuen estnischen Komponisten gefallen, und daraufhin war er sich schlagartig der ungeheuren Ähnlichkeit bewusst geworden. Zwischen Karp und Pärt. Er hatte seinen Doppelgänger gesehen. Und einen Schuss später war er in seinen Doppelgänger geglitten, und die beiden waren eins geworden. Er war Arvo Pärt und nannte sich seither Pärt. Und da es seinen Bekannten völlig egal war, wie wer wirklich hieß, wurde er zu Pärt.
Arvo Pärt.
Viele Jahre lang hatte er in den südlichen Vororten als Briefträger gearbeitet, aber seine
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