Die Springflut: Roman (German Edition)
seinem Mund drang. In einem früheren Leben war er Bibliothekar, sehr belesen und ebenso sehr allen alkoholhaltigen Getränken zugeneigt gewesen. Von Moltebeerenlikör bis zu Selbstgebranntem. Eine Trinkerlaufbahn, die innerhalb von zehn Jahren seine Existenz zerstört und ihn in einem gestohlenen Lieferwagen nach Stockholm gebracht hatte, wo er sich als Bettler, Ladendieb und menschliches Wrack über Wasser hielt.
Aber belesen war er.
»… wir leben gnadenhalber«, erklärte Benseman.
Pärt nickte zustimmend und streckte sich nach der Bierdose. Muriel zog eine kleine Plastiktüte und einen Löffel heraus, was Benseman nicht entging.
»Wolltest du nicht endlich aufhören mit dieser Scheiße?«
»Ja, schon. Mach ich auch.«
»Und wann?«
»Ich hör auf!«
Das tat sie tatsächlich. Allerdings nicht, weil sie ihren Schuss nicht mehr wollte, sondern weil ihr Blick plötzlich auf zwei junge Burschen fiel, die zwischen den Bäumen heranschlenderten. Der eine trug eine schwarze Kapuzenjacke, sein Kumpel eine dunkelgrüne. Beide hatten graue Jogginghosen, harte Stiefel und Handschuhe an.
Sie waren auf der Jagd.
Das Obdachlosentrio reagierte relativ schnell. Muriel schnappte sich ihre Plastiktüte und rannte los, Benseman und Pärt stolperten hinterher, bis Benseman auf einmal seine zweite Dose Bier einfiel, die er hinter dem Papierkorb versteckt hatte. In der kommenden Nacht könnte sie den Unterschied zwischen Wachen und Schlafen ausmachen. Er kehrte um und stolperte vor einer der Bänke.
Sein Gleichgewichtssinn ließ zu wünschen übrig.
Seine Reaktionsfähigkeit auch. Als er sich aufzurappeln versuchte, traf ihn ein kräftiger Tritt mitten ins Gesicht, und er wurde auf den Rücken geworfen. Der Kerl in der schwarzen Kapuzenjacke stand direkt neben ihm. Sein Kumpel hatte ein Handy herausgezogen und die Kamera eingeschaltet.
Es war der Beginn eines besonders brutalen Falls von Körperverletzung, gefilmt in einem Park, aus dem keine Geräu sche drangen und in dem es nur zwei Zeugen in panischer Angst gab, die sich weit weg in einem Gebüsch versteckt hielten.
Muriel und Pärt.
Selbst aus dieser Entfernung sahen sie jedoch, dass aus Bensemans Mund und Ohren Blut lief, und hörten sein dumpfes Stöhnen bei jedem Tritt, der ihn in den Unterleib und ins Gesicht traf.
Immer und immer wieder.
Erspart blieb ihnen allerdings anzusehen, wie Bensemans wenige Zähne in das Wangenfleisch getreten wurden und die Haut durchbohrten. Stattdessen beobachteten sie, wie der massige Nordschwede versuchte, seine Augen zu schützen.
Mit denen er so gerne las.
Muriel weinte still und presste eine zerstochene Armbeuge auf ihren Mund. Ihr ausgemergelter Körper zitterte. Schließlich nahm Pärt die junge Frau an der Hand und zog sie fort. Sie konnten ohnehin nichts tun. Oder doch, sie konnten die Polizei rufen, dachte Pärt und zerrte Muriel so schnell es ging zum Lidingövägen.
Es dauerte eine Weile, bis sich das erste Auto näherte. Pärt und Muriel begannen schon zu schreien und zu winken, als es noch fünfzig Meter entfernt war, was zur Folge hatte, dass es in einem weiten Bogen um sie herumfuhr und beschleunigte.
»Du Dreckschwein!!«, schrie Muriel.
Neben dem nächsten Fahrer saß eine Frau, eine gepflegte Dame in einem schönen, kirschfarbenen Kleid. Sie deutete durch die Windschutzscheibe.
»Fahr jetzt bloß keinen dieser Fixer an, denk daran, dass du getrunken hast.«
So rauschte auch der graue Jaguar vorbei.
Als Bensemans Hand mit einem Fußtritt gebrochen wurde, waren die letzten Sonnenstrahlen über dem Wasser der Värtafjärden verschwunden. Der Mann mit dem Handy schaltete die Kamera aus, und sein Freund griff nach Bensemans vergessenem Bier.
Dann liefen sie davon.
Zurück blieben nur die Dunkelheit und der korpulente Nordschwede auf dem Erdboden. Seine gebrochene Hand scharrte ein wenig im Kies, seine Augen waren geschlossen. Clockwork Orange war das Letzte, was ihm durch den Kopf ging. Wer zum Teufel hatte das noch mal geschrieben? Dann rührte er sich nicht mehr.
D ie Decke war heruntergerutscht und ihr nackter Oberschenkel entblößt. Eine warme, raue Zunge leckte sich nach oben. Sie bewegte sich im Schlaf und spürte ein Kitzeln. Als aus dem Lecken ein sanfter Biss in ihren Schenkel wurde, schoss sie hoch und verscheuchte den Kater.
»Nein!«
Mit dem Ausruf war allerdings nicht der Kater, sondern ihr Wecker gemeint. Sie hatte verschlafen, und zwar gründlich. Außerdem war ihr Kaugummi, das sie an
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