Die Springflut: Roman (German Edition)
hatte.
»Ja.«
»Welcher ist es?«
Olivia schaute auf ihren Ordner.
»Ein Mordfall auf der Insel Nordkoster.«
»Wann hat er sich zugetragen?«
»Siebenundachtzig.«
»Und warum hast du dir gerade den ausgesucht?«
»Hast du auch einen gefunden? Oder lässt du es einfach bleiben? Die Aufgabe ist ja nicht obligatorisch.«
Ulf lächelte kurz und ließ sich auf die Bank nieder.
»Was dagegen, wenn ich mich setze?«
»Ja.«
Olivia wusste ganz gut, wie man sich Leute vom Hals hielt. Außerdem wollte sie sich auf den Fall konzentrieren, den sie gerade aufgeschlagen hatte.
Den Fall, in dem ihr Vater ermittelt hatte.
Ein ziemlich spektakulärer Fall, wie sich herausstellte, der von Åke Gustafsson so interessant zusammengefasst worden war, dass Olivia sofort nach mehr Informationen verlangte.
Also fuhr sie zur Königlichen Bibliothek und ging ins Untergeschoss, wo sich der Lesesaal für Zeitungen auf Mikrofilm befand. Eine Bibliothekarin zeigte ihr, wie man in den Regalen das Gesuchte fand und welches Lesegerät sie benutzen konnte. Alles war minutiös erfasst worden. Jede einzelne Zeitung im Land war seit den fünfziger Jahren auf Mikrofilmen archiviert worden. Man musste sich lediglich für eine Zeitung und eine Jahreszahl entscheiden, sich an das Lesegerät setzen und anfangen.
Olivia begann mit einem Provinzblatt, dessen Lokalteil auch über Nordkoster berichtete. Die Strömstad Tidning . Das Datum und den Tatort des Mordfalls hatte sie den Fall unterlagen entnommen. Als sie die Suchfunktion betätigte, dauerte es nur wenige Sekunden, bis die fettgedruckte Schlagzeile auf dem Bildschirm prangte: »MAKABERER MORD AM UFER VON NORDKOSTER«. Der Artikel war von einem ziemlich erregten Reporter geschrieben worden und enthielt eine Reihe von Informationen über Ort und Zeitpunkt.
Sie legte los.
In der nächsten Stunde arbeitete sie sich über diverse Lokalzeitungen in immer größeren Kreisen zu den Tageszeitungen in Göteborg, den Boulevardblättern in Stockholm und den großen überregionalen Tageszeitungen vor und machte sich fieberhaft Notizen.
Über Wichtiges und scheinbar Nebensächliches.
Der Fall hatte im ganzen Land aus mehreren Gründen große Aufmerksamkeit erregt. Es war ein äußerst brutaler Mord gewesen, der von unbekannten Tätern an einer jungen, hochschwangeren Frau begangen worden war. Man hatte weder Verdächtige noch ein Tatmotiv gefunden. Man kannte nicht einmal den Namen des Opfers.
Dieser Mord war all die Jahre ein ungelöstes Rätsel geblieben.
Olivia faszinierte der Fall als Phänomen, aber vor allem der Mord selbst immer mehr: was sich in einer sternenklaren Nacht in einer Bucht auf Nordkoster abgespielt hatte. Die teuflische Methode, eine nackte, schwangere Frau mit Hilfe der Flut zu ermorden. Der Flut?
Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Foltermethode, dachte Olivia. Eine extreme Form des Ertränkens. Langsam, sadistisch.
Warum war sie ausgerechnet so ermordet worden?
Auf diese spektakuläre Art?
Olivia ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Gab es eine Verbindung zum Okkultismus? Gezeitenanbeter? Mondanbeter? Der Mord war am späten Abend geschehen. Handelte es sich um eine Art Opferritual? Um eine Sekte? Sollte der Fötus herausgeschnitten und irgendeiner Mondgottheit geopfert werden?
Jetzt komm mal wieder runter, dachte sie dann, schaltete das Lesegerät aus, lehnte sich zurück und blickte auf ihren vollgekritzelten Notizblock: eine Mischung aus Fakten und Spekulationen, Wahrheiten und Vermutungen und mehr oder weniger glaubwürdigen Hypothesen von diversen Kriminalreportern und Kriminologen.
Einer »zuverlässigen Quelle« zufolge waren im Körper des Opfers Spuren von Drogen gefunden worden. Rohypnol. Rohypnol ist eine klassische Vergewaltigungsdroge, dachte Olivia. Aber sie war doch hochschwanger? Hatte man sie etwa betäubt? Aber warum?
Laut Polizei hatte man in den Dünen einen dunklen Stoffmantel entdeckt, auf dem man Haare der Frau gefunden hatte. Wenn das der Mantel des Opfers war, wo waren dann die restlichen Kleider? Hatten die Mörder sie mitgenommen und den Mantel vergessen?
Man hatte weltweit, aber vergeblich nach der Frau gesucht. Schon seltsam, dass keiner eine schwangere Frau vermisst, überlegte sie.
Laut Polizeibericht war sie zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt und möglicherweise lateinamerikanischer Herkunft gewesen. Was war mit »lateinamerikanischer Herkunft« gemeint? Welches Gebiet umfassten diese Worte?
Die Vorgänge am
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