Die Springflut: Roman (German Edition)
jedem funktionierenden Wohlfahrtsstaat hätte sein können.
Wenn es einen solchen noch gegeben hätte.
Den gibt es nur leider nicht mehr, dachte Vera, den haben sie Schicht für Schicht abgehobelt. Aber wir haben ja die Aktion Sorgenkind!
Und daraufhin lächelte sie schwach und sah, dass ihr der Nagel des kleinen Fingers ganz hervorragend gelungen war.
D er Mann auf dem Bett hatte in seinem Gesicht zwei diskrete Schnitte ausführen lassen, mit denen die Tränensäcke unter seinen Augen fortgezaubert worden waren. Ansonsten war er noch intakt. Seine grauen Haare waren kurz und dicht und wurden alle fünf Tage in Fasson gebracht, der restliche Körper wurde in seinem privaten Sportstudio eine Etage tiefer in Form gebracht.
Er trotzte seinem Alter.
Vom Doppelbett in seinem Schlafzimmer konnte er nur zwei Grundstücke weiter den Cedergren’schen Turm sehen, das berühmte Wahrzeichen des vornehmen Stocksunds, mit dem sich der Forstmeister Albert Gotthard Nestor Cedergren Ende des 19. Jahrhunderts ein Denkmal hatte setzen wollen.
Er selbst wohnte im Granhällsvägen, in Ufernähe, in einem wesentlich kleineren Gebäude von etwas mehr als 420 Quadratmeter Wohnfläche mit Meerblick. Das musste reichen. Immerhin hatte er ja auch noch seine kleine Perle auf Nordkoster.
Jetzt lag er auf dem Rücken und ließ sich von seinem Bett massieren, es war eine sanfte, exklusive Ganzkörpermassage. Sogar die Innenseiten der Schenkel wurden bedacht. Ein Luxus, der die zusätzlichen zwanzigtausend wert war, die es gekostet hatte.
Er genoss es.
An diesem Tag würde er den König treffen.
»Treffen« war vielleicht nicht das richtige Wort. Er würde bei einer Zeremonie in der Handelskammer anwesend sein, deren Hauptperson der Monarch war. Er selbst war die andere Hauptperson. Die Zeremonie fand nämlich zu seinen Ehren statt. Ihm würde die Auszeichnung für das erfolgreichste schwedische Unternehmen des vergangenen Jahres im Ausland überreicht werden, oder wie auch immer die exakte Formulierung lauten mochte.
In seiner Eigenschaft als Gründer und Vorstandsvorsitzender von Magnuson World Mining AB .
MWM .
Er war Bertil Magnuson.
»Und was ist mit dem, Bertil?!«
Linn Magnuson rauschte in einer ihrer Kreationen ins Schlafzimmer. Es war wieder das kirschfarbene Kleid, das sie erst kürzlich abends getragen hatte. Es war sehr schön.
»Es ist hübsch.«
»Findest du? Ist es auch nicht zu … du weißt schon …«
»Provozierend?«
»Das nicht, aber vielleicht zu schlicht? Du weißt ja, wer heute alles da sein wird.«
Das wusste Bertil Magnuson in etwa. Die Crème de la crème der Stockholmer Wirtschaft, ein paar Vertreter des Adels, eine Reihe sorgsam ausgewählter Politiker, zwar nicht auf Regierungsebene, aber fast. Oder vielleicht doch? Mit etwas Glück würde der Finanzminister für ein paar Minuten vorbeischauen. Das sorgte immer für besonderen Glanz. Erik würde leider nicht kommen können. Sein letzter Eintrag bei Twitter lautete: »Brüssel. Besprechungen mit wichtigen Vertretern der Kommission. Ich hoffe, ich schaffe es noch zum Friseur.«
Erik achtete immer penibel auf sein Äußeres.
»Und das hier?«, fragte Linn.
Bertil Magnuson setzte sich im Bett auf, allerdings nicht als Reaktion auf die nächste Präsentation seiner Frau, eine kostbare rot-weiße Robe, die sie in einer Nobelboutique in der Sibyllegatan gefunden hatte, sondern weil sich etwas ankündigte.
In seiner Blase.
Sie hatte ihm in der letzten Zeit Probleme bereitet. Er musste häufiger auf die Toilette, als ein Mann in seiner Position sich das zeitlich leisten konnte. Vor einer Woche war er einem Professor für Geologie begegnet, der ihn fast zu Tode erschreckt hätte. Der Mann hatte ihm erzählt, dass er als Vierundsechzigjähriger an Inkontinenz litt.
Bertil Magnuson war sechsundsechzig.
»Ich finde, das solltest du anziehen«, sagte er.
»Findest du? Ja, vielleicht hast du recht. Es ist schnuckelig.«
»Genau wie du.«
Er hauchte einen Kuss auf die Wange seiner Frau. Er hätte gerne mehr getan, denn für ihre fünfzig Jahre war sie außerordentlich schön, und er liebte sie abgöttisch, aber seine Blase schob ihn an ihrem Körper vorbei aus dem Zimmer.
Er merkte, dass er nervös war.
Es war in vieler Hinsicht ein großer Tag für ihn und ein noch größerer für MWM . Sein Unternehmen. Nach der Verkündung der Auszeichnung war die Kritik an der Erschließung der Vorkommen im Kongo in den letzten Tagen immer lauter geworden. Aus
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