Die Springflut: Roman (German Edition)
pennen.
Die Wände hatte sie mit Zeitungsartikeln über Obdachlose und kleinen Plakaten geschmückt, die sie ab und zu fand, und über der einen Pritsche hing etwas, was wie eine Kinderzeichnung von einer Harpune aussah. Über die andere hatte sie einen ausgeschnittenen Satz geklebt: »Nicht die Outsider nutzen die Gesellschaft aus, sondern die Insider!«
Das gefiel Vera.
Jetzt saß sie an ihrem abgewetzten Sperrholztisch und lackierte ihre Fingernägel schwarz, was ihr allerdings nicht besonders gut gelang.
Es waren die Nachtstunden, in denen ihr einfach nichts gelingen wollte. Die Zeit des Wachens. In den Nächten lag Vera häufig wach und wartete krampfhaft. Nur selten wagte sie es, einfach einzuschlafen. Wenn der Schlaf sie schließlich doch übermannte, war dies eher eine Form von Kollaps. Sie brach zusammen oder fiel in eine Art Halbschlaf.
So ging das schon sehr lange.
Wie bei so vielen Menschen in ihrer Umgebung war ihre Psyche vor sehr langer Zeit gepeinigt und schließlich verstümmelt worden.
In ihrem Fall, der sicher kein Einzelfall war, aber ganz persönliche Details enthielt, waren es zwei Dinge gewesen, die sie am meisten gepeinigt oder verstümmelt hatten. Der Schlüsselbund hatte sie körperlich und mental gepeinigt. Die Schläge mit dem großen Schlüsselbund ihres Vaters hatten in ihrem Gesicht sichtbare weiße Narben und in ihrem Inneren unsichtbare Narben hinterlassen.
Sie fand, dass sie mit diesem Schlüsselbund häufiger verprügelt worden war, als sie es verdient gehabt hätte, und begriff, wenn sie so dachte, nicht, dass kein Kind es jemals verdient hatte, mit einem Schlüsselbund ins Gesicht geschlagen zu werden: Für einen Teil der Schläge nahm sie also die Schuld auf sich. Sie hatte gewusst, dass sie ein schwieriges Kind war.
Dagegen hatte sie damals nicht gewusst, dass sie ein schwieriges Kind in einer dysfunktionalen Familie war, in der die Eltern ihre eigene Lebensunfähigkeit an dem einzigen ausließen, was es in ihrer Nähe gab.
An ihrer Tochter Vera.
Der Schlüsselbund peinigte sie, doch das, was mit ihrer Großmutter geschehen war, verstümmelte sie.
Vera hatte ihre Großmutter geliebt, und die Großmutter hatte Vera geliebt, und mit jedem Schlüsselbundschlag in Veras Gesicht war die Großmutter ein wenig geschrumpft.
Sie war machtlos und voller Angst vor ihrem eigenen Sohn gewesen, bis sie schließlich aufgegeben hatte.
Als es passierte, war Vera dreizehn. Sie hatte die Großmutter mit ihren Eltern auf dem Hof nördlich von Stockholm besucht. Durch den mitgebrachten Schnaps entwickelte sich der Tag wie immer, und ein paar Stunden nach ihrer Ankunft hatte die Großmutter das Haus verlassen, da sie es nicht länger ertrug, das Elend zu sehen und zu hören. Sie hatte gewusst, was kommen würde: der Schlüsselbund. Als er schließlich herausgeholt wurde, war es Vera gelungen, ihm ausnahmsweise zu entkommen, und sie war losgerannt, um ihre Großmutter zu holen.
Vera hatte sie in der Scheune gefunden, wo sie an einem dicken Seil tot vom Dachbalken herabhing.
Das allein war bereits ein Schock gewesen, aber dabei sollte es nicht bleiben. Vergeblich hatte sie versucht, ihre sinnlos betrunkenen Eltern irgendwie zu erreichen. Deshalb hatte sie es schließlich selbst tun müssen. Sie hatte ihre Großmutter aus der Schlinge gelöst, sie auf die Erde gelegt und geweint. Stundenlang hatte sie neben der Leiche ihrer Großmutter gelegen, bis ihre Tränen versiegt waren.
Das hatte sie verstümmelt.
Und das machte es ihr heute so schwer, den kürzlich gefundenen schwarzen Nagellack so gleichmäßig aufzutragen, wie sie sich das gewünscht hätte. Er verlief. Zum einen, weil Veras Augen von der Erinnerung an ihre Großmutter getrübt wurden, aber auch, weil sie zitterte.
Aber dann dachte sie an Jelle.
Das tat sie fast immer, wenn das Wachsein sie zu sehr schmerzte. Sie dachte an ihn und seine Augen, in denen es etwas gab, was ihr schon bei ihrer ersten Begegnung in der Zeitungsredaktion aufgefallen war. Er guckte nicht, er sah, fand Vera, als sähe er sie, als dränge sein Blick durch ihr verlebtes Äußeres bis zu dem Menschen durch, der sie in einer anderen Welt war.
Oder vielmehr hätte sein können. Wenn ihr nicht das nötige Rüstzeug gefehlt hätte und sie nicht in schlechte Gesellschaft geraten wäre und einen Leidensweg zwischen Anstalten und Heimen angetreten hätte.
Es kam ihr so vor, als sähe er die andere Vera, die starke, ursprüngliche Frau, die eine Bürgerin in
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