Die Springflut: Roman (German Edition)
denn nicht, dass die Frage in der Luft lag.
Das tat er möglicherweise, aber es war eine Frage, die er ihr ganz offensichtlich nicht beantworten wollte.
»Gute Nacht.«
Mit dem Bild Olivias auf der Netzhaut ging Dan Nilsson davon.
*
Die Posaune lag in ihrem schwarzen Koffer, und der Hansdampf saß neben ihm auf dem Kai unterhalb des Restaurants Strandkanten . Es war ein langer Abend geworden, und es war einiges seine Kehle hinuntergelaufen. Nun wollte er ein wenig nüchterner werden. Am nächsten Tag würde er eine Räucherei eröffnen. Frisch geräucherter Fisch für die Landratten, damit gedachte er einiges Geld zu machen. Der grobschlächtige Einheimische neben ihm war nüchtern. Er hatte die Nachtschicht für das Taxiboot und war ein paar Minuten zuvor gebucht worden.
»Von wem?«
»Einem von drüben.«
Von drüben konnte alles von Strömstad bis Stockholm bedeuten.
»Was nimmst du für die Fahrt?«
»Zweitausend Kronen.«
Der Hansdampf machte eine Überschlagrechnung und verglich das Ergebnis mit seiner Räucherei. Der Stundenlohn fiel nicht zum Vorteil der Räucherei aus.
»Ist er das?«
Der Hansdampf nickte landaufwärts. Ein Mann in Lederjacke und schwarzer Jeans näherte sich ihnen.
Ein Mann, der auf Nordkoster alles erledigt hatte.
Nun musste er den nächsten Schritt machen.
In Stockholm.
*
Die Lampe eingeschaltet, die Tür abgeschlossen und mit dem Namen Dan Nilsson auf den Lippen war sie schließlich eingeschlafen.
Der Mann in der Bucht.
Die restliche Nacht wurde sie stundenlang von Fieberalpträumen geschüttelt. Plötzlich drang ein heiserer Schrei aus ihrer Kehle und dem weit aufgerissenen Mund. Ein fürchterliches Brüllen. Kalter Schweiß drang aus jeder Pore, und ihre Hände scharrten in der Luft. Auf dem Fensterbrett hinter ihr saß eine Spinne und betrachtete das Drama im Bett, in dem die junge Frau verzweifelt versuchte, aus einer schrecklichen Grube zu klettern.
Am Ende gelang es ihr.
Der Alptraum blieb ihr bis ins kleinste Detail im Gedächtnis. Man hatte sie am Meeresufer nackt eingegraben. Es war Ebbe, der Mond schien, und es war kalt. Langsam rollte das Meer heran und kam immer näher. Wasser strömte auf ihren Kopf zu, aber es war gar kein Wasser, es war ein Lavastrom aus kleinen schwarzen Krabben, der sich zu ihrem nackten Gesicht und in ihren offenen Mund wälzte.
Das war der Moment gewesen, in dem sie gebrüllt hatte.
Olivia warf sich keuchend aus dem Bett. Sie zog mit einer Hand die Decke zu sich heran, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und starrte in der Hütte umher. War diese ganze Nacht vielleicht nur ein Traum? War dieser Mann tatsächlich da gewesen? Sie ging zur Tür und öffnete sie. Sie brauchte Luft und trat in die Dunkelheit hinaus. Der Wind war deutlich schwächer geworden. Sie merkte, dass sie pinkeln musste, stieg die Treppe hinunter und ging hinter einem großen Strauch in die Hocke. Da sah sie ihn links von sich.
Den Trolley des Mannes.
Sie trat zu ihm und ließ den Blick durch die Dunkelheit schweifen, konnte aber nichts und niemanden erkennen. Zumindest keinen Dan Nilsson. Sie beugte sich zu dem Koffer hinab. Sollte sie ihn öffnen?
Sie zog den Reißverschluss auf und hob vorsichtig den oberen Teil des Trolleys an.
Der Koffer war vollkommen leer.
*
Aus der Ferne betrachtet mochte der graue Wohnwagen idyllisch aussehen, der eingebettet in das nächtliche Grün des Waldes Ingenting in Solna stand und aus dem durch das ovale Fenster ein schwacher gelber Lichtschein hinausfiel.
Doch in seinem Inneren verschwand jegliche Idylle.
Der Wohnwagen hatte längst seine besten Tage gesehen. Früher funktionierte der Gasherd an der Wand, heute war er durchgerostet. Früher ließ das Plexiglasoberlicht die Sonnenstrahlen herein, heute war es moosbewachsen. Früher war die Tür von einem Vorhang aus langen, bunten Plastikstreifen verdeckt worden, heute waren nur noch drei halb abgerissene Streifen übrig. Früher war er der Urlaubstraum einer Kleinfamilie gewesen, heute gehörte er der einäugigen Vera.
Anfangs hatte sie ihn noch oft geputzt und versucht, ein annehmbares hygienisches Niveau aufrechtzuerhalten, aber je mehr Fundstücke sie aus Müllcontainern herangeschleppt hatte, desto deutlicher war dieses Niveau gesunken. Inzwischen verliefen Ameisenstraßen kreuz und quer durch das Gerümpel, und in den Ecken hockten Ohrenkneifer.
Trotzdem war der Wohnwagen immer noch besser, als in Fußgängerunterführungen und Fahrradkellern zu
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