Die Spur der Hebamme
solch einer langen Reise nicht so bald in der Lage sein«, meinte er in bedauerndem Tonfall. »Aber wenn Ihr es wünscht, beauftrage ich einen meiner Männer, noch heute zu Landgraf Ludwig aufzubrechen und ihm ein Lösegeld für Euren Gemahl anzubieten, falls er ihn wirklich hat.«
Er beugte sich erneut über ihre Hand und küsste sie, während sein Blick über ihren Körper glitt.
»Das wäre sehr gütig von Euch«, sagte sie, ohne das Misstrauen aus ihrer Stimme heraushalten zu können.
»Es ist nicht so sehr Edelmut wie meine tiefe Bewunderung für Euch, die mich dazu bringt«, sagte Ulrich. »Ich würde erwarten und hoffen, dass Ihr Euch erkenntlich zeigt.«
»Erkenntlich auf welche Art?«, fragte sie ihn scharf, da sein Verhalten nur eine Antwort zuließ.
»Kommt heute Nacht zu mir. Ihr habt mein Wort, niemand wird es je erfahren.«
Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache angesichts solcher Unverblümtheit. »Euer Vorschlag ist gegen Gottes Gebot, schändlich gegenüber Eurem Schwiegervater, unter dessen Dach Ihr lebt, und eine Beleidigung für mich«, entgegnete sie schroff.
Der Böhme lächelte genüsslich. »Natürlich müsst Ihr Euch erst sträuben, meine Liebe. Das gehört zum Spiel. Aber lasst uns das verkürzen. Die Zeit drängt. Ich kann es nicht erwarten, Euch in meinen Armen zu halten. Und jeder Augenblick, den Ihr verstreichen lasst, könnte Euren Gemahl dem Tod ein Stück näher bringen. Ihr habt keine Wahl. Wollt Ihr Euch wirklich einmal vorwerfen müssen, wegen Eurer Verzagtheit den Tod Eures Mannes mitverschuldet zu haben?«
Auf einmal fühlte Marthe unendliche Leere. Sie holte tief Luft, um etwas zu entgegnen, doch da forderten die Aufregung, die Trauer um so viele ihr vertrauter Menschen, die Sorge um Christian und die durchwachte Nacht an Lukas’ Krankenbett ihren Tribut. Alles um sie herum wurde Nacht, und sie sackte zusammen.
Ulrich fing sie auf. Erst dachte er, dies wäre eine gespielte Ohnmacht als geschicktes Manöver der jungen Frau, ihren Ruf zu wahren und dennoch auf sein Angebot einzugehen, indem sie ihm Anlass bot, sie in seine Kammer zu tragen. Doch dann erkannte er an der Totenblässe und Kühle ihrer Haut, dass hier wirklich ein Notfall vorlag.
Er rief nach einem Diener. »Der Kummer hat sie überwältigt. Bringt sie in ihre Kammer.«
Ein paar kräftige Schläge ins Gesicht brachten Marthe wieder zu sich. Über sich gebeugt sah sie Susanne, die erleichtert aufatmete und ihr etwas Kühles zu trinken einflößte.
»Wie geht es dir?«, fragte die sommersprossige Magd. »Hedwighat mich geschickt, damit ich mich um dich kümmere. Sie macht sich große Sorgen.«
Marthe blieb ihr eine Antwort schuldig. Zu sehr drehten sich ihre Gedanken um einen einzigen Punkt.
Sollte sie auf Ulrichs Angebot eingehen? Er war ihr zuwider, es war gegen Gottes Wort; und vielleicht würde ihr Mann, ihre einzige Liebe, sie deshalb verstoßen.
Aber was spielte das noch für eine Rolle angesichts von so viel Tod? Wichtig war allein, dass Christian lebte.
Und sie ahnte, dass er ewige Verdammnis in Kauf genommen hatte, um sie vor dem Raubvogelgesicht zu retten. Durfte sie da nicht ihre Tugend und ihre Seele aufs Spiel setzen, um ihn zu retten?
Doch zuvor musste sie eine andere Pflicht erfüllen.
Sie bat Elisabeth, sie in die Kapelle zu begleiten, wo die inzwischen herbeigebrachten Gefallenen aus ihrem Dorf aufgebahrt waren. Raimunds Frau wartete voller Sorge auf Nachricht von ihrem Mann. Raimund, Christian, Richard und Gero waren seit ihrer gemeinsamen Knappenzeit befreundet, der Tod der beiden Brüder hatte auch sie tief getroffen.
Stocksteif, um nicht zusammenzubrechen, betrat Marthe den Raum und versuchte, sich für das zu wappnen, was sie hier erwartete.
Langsam schritt sie die Reihen der Toten ab, von denen sie jeden gekannt und schon in ihrem Haus bewirtet hatte und einige so gut wie zur Familie zählten.
Jemand hatte die Toten gewaschen, zerfetzte Kleidung durch neue ersetzt, doch an den Kettenpanzern der Ritter war immer noch Blut zu sehen. Einigen war ein Bein oder ein Arm abgeschlagen worden, Körper waren von Pfeilen oder Armbrustbolzen durchbohrt.
Sie versuchte die Tränen zurückzudrängen, als sie die Gesichter der jungen Männer sah, die nie wieder lachen, scherzen oder einem Mädchen kecke Worte nachrufen würden.
Herwart, den kampferfahrenen Hauptmann der Wache, hatten die Angreifer so verstümmelt, dass sie ihn nur an dem grauen Haarschopf erkannte.
Sie
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