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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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Mira laut.
    Sie wusste, dass er sie gehört hatte, denn sein Kopf schoss hoch, sein Mund öffnete sich, und sie hörte ein lautes Neeeeeeiiinnnn. Er stürzte sich auf sie – und glitt durch sie hindurch. Eine eisige Kälte erfüllte Mira, jene Knochenmarkkälte, die man in dunklen Nächten auf einem Friedhof empfand. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, eine Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus. Mira wirbelte herum, sah die unscharfe, schimmernde Form auf Annie zuwanken. Die bemerkte sie ebenfalls, rappelte sich auf und kreischte: »Du bist tot, du kannst mir nichts tun!«
    Sie rannte auf Mira und Sheppard zu und warf ihre Arme um sie beide. Sie nahmen sie in ihre Arme, und Mira sah zu, wie Wheaton an Dichte verlor, an Sichtbarkeit, und dann einfach verblasste.
    »Ist er weg?«, flüsterte Sheppard.
    »Ja«, flüsterte Mira zurück.
    »Dann lass uns nach Hause gehen.«

Dreißig

28. Juli 2003
    Ihre Mutter hielt am Bürgersteig vor einem großen Haus in Pirate’s Cove. Annie schaute es an. »Bist du sicher, dass er hier lebt?«
    »Lydia hat mir die Adresse gegeben. Sie sollte es wissen. Geh schon, Schätzchen, ich warte.«
    Annie stieg aus dem Wagen, ihre Tasche über die Schulter gehängt. Die Julihitze lastete wie ein Gewicht auf ihrem Schädel. Die Heuschrecken sangen im Schatten. Schmetterlinge huschten durch die Bougainvillearanken, die sich über die Betonmauer ergossen. Sie öffnete das Metalltor, hielt inne, schaute zurück zu ihrer Mutter.
    Ihre Mom winkte sie vorwärts, und Annie ging weiter. Sie dachte an die vielen Dinge, die sie ihm sagen wollte: Wie sie und ihre Mutter und Sheppard in den Zeitungsarchiven nachgesehen hatten, was sich verändert hatte, und einige deutliche Abweichungen gefunden hatten. Eva Wheaton beispielsweise war vier Tage nachdem der jüngere Wheaton entkommen war, verschwunden, und ihr Vater und ihre Stiefmutter waren mehrere Jahre später gestorben, ein Doppelselbstmord. Die Leichen von zwei von Wheatons weiteren Opfern wurden 1968 entdeckt, aber eine erst in ihrer Zeit von Sheppard. Den zweiten Zettel, den ihre Mutter Sheppard geschrieben hatte, hatte Sheriff Fontaine mitgenommen, der ihn der jüngeren Nadine übergeben hatte, nachdem Annie, Mira und Sheppard durch den Korridor zurückgereist waren. So viele Widersprüche, so viele Dichotomien. Die Zeit hatte die Details ihrer persönlichen Geschichte neu geschrieben.
    Doch sie wusste, dass sie ihm nichts davon sagen würde, deswegen war sie nicht hier.
    Annie klingelte, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ein Hausmädchen in einer gestärkten weißen Uniform öffnete.
    »Ist Mr Blake da?«
    »Das ist er. Komm rein.«
    »Nein, schon in Ordnung. Ich warte hier.« Sie wollte nicht die Welt betreten, in der er jetzt lebte. Sie wollte sich bloß bei ihm bedanken und wieder gehen.
    Der Mann, der zur Tür kam, war groß gewachsen, genau wie der Rusty, den sie kannte, aber alles andere war anders. Er war alt. Älter als ihre Mutter, älter als Shep. »Hi«, sagte er und zwinkerte, dann runzelte er die Stirn, fast als würde er sie erkennen.
    Für sie war das Gefühl seiner Küsse erst ein paar Wochen her, für ihn lagen sie fünfunddreißig Jahre in der Vergangenheit. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie sprechen konnte. »Ich habe etwas, was Ihnen gehört.« Sie griff in ihre Tasche und zog die Jimi-Hendrix-CD heraus, die er ihr damals im Schuppen vorgespielt hatte. »Hier.«
    Er sah die CD an, dann schaute er ihr ins Gesicht. »Annie«.
    »Ich wollte dir immer danken, dass du mein Leben gerettet hast.«
    Etwas Trauriges geschah mit seinem Gesicht, seinem Blick. Er schaute an ihr vorbei zu dem Wagen, der am Bürgersteig stand, dann sah er wieder sie an. »Ich wollte dich an dem Tag, an dem du durch den Korridor zurückkommen solltest, am Strand treffen, aber ich … ich konnte nicht. Ich wusste, wie es für dich sein würde. Ich wusste, wie es für mich sein würde. Also hat Nadine meinen Platz eingenommen.«
    Annie wusste, dass er sich entschuldigte für das, was er als ein Versagen seinerseits betrachtete, dass das Monster dieses riesige Loch in ihm hinterlassen hatte, das er immer mit Entschuldigungen zu füllen versuchen würde, weil er glaubte, den Dingen nicht gerecht zu werden. »Scheiß doch auf die Regeln«, sagte sie und schlang ihre Arme um seine Taille.
    Seine langen Arme legten sich um sie, und sie standen lange so da, keiner von ihnen sagte ein Wort.
    »Es ist unfair«, sagte sie

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