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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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Mangroven zeichneten sich vor ihr ab. Ich schaffe das, ich schaffe, ich schaffe …
    Annie schaute noch einmal zurück. Großer Fehler. Er kam näher wie der Wind. Sekunden später erreichte sie die Mangroven und stolperte prompt über etwas, eine hervorstehende Wurzel, einen Ast, sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber sie verlor ihr Gleichgewicht. Sie stürzte auf Hände und Knie. Ihre Hände versanken bis zu den Handgelenken im Matsch – dicker, tiefer Schlamm, verrottende Blätter, totes Zeug. Der Matsch drückte sich unter ihre Fingernägel, zwischen ihre Zehen und stank wie verfaulte Eier.
    Sie riss ihre Hände heraus, schoss hoch, aber der Schlamm sog an ihren Füßen, hielt sie gefangen. Voller Angst drehte sie sich kraftvoll zur Seite, sie griff in der Dunkelheit panisch nach einem Halt, einem Hebel. Ihre Finger fanden einen Ast, und sie packte ihn und zog ihren linken Fuß aus dem Matsch, dann brach der Ast, und sie taumelte nach vorn. Jetzt konnte sie ihn hören, ein Riese brach durch die Mangroven, er atmete schwer.
    Dann stürzte er sich auf sie, seine kräftigen Arme schlangen sich um sie und zogen sie aus dem Schlamm, als wäre sie bloß ein Ästchen. Annie schrie, trat, wand sich und biss ihm in den Handrücken. Sie hielt durch, biss tiefer, schmeckte Blut. Er gab ein tiefes, entsetzliches Tiergeräusch von sich, und einige Sekunden lockerte sich sein Griff, sodass sie mit den Ellbogen nach hinten stoßen konnte. Sie wusste nicht genau, wo sie ihn getroffen hatte, aber es musste genau die richtige Stelle gewesen sein, denn plötzlich ließ er sie los.
    Annie rannte davon, der Schlamm sog an ihren Füßen, Äste peitschten ihr Gesicht, ihre Arme, Insekten flitzten ihre Beine hoch. Sie bog nach links, nach rechts, wieder nach links, sie versuchte zu einem möglichst schwierigen Ziel zu werden, aber es war so dunkel, dass sie nichts sehen konnte. Sie lief gegen einen Baum und taumelte zurück, die gesamte rechte Seite ihres Gesichts brannte vor Schmerz. Dann packte er sie erneut, und sie stürzten zur Seite und fielen ins Wasser. Gestank und Schlamm drangen ihr in die Nase, Panik erfüllte sie.
    Er riss sie an den Haaren hoch, packte von hinten ihr Shirt und trug sie daran aus den Mangroven heraus, wie ein Gepäckstück. Sie schrie und trat, sie versuchte, sich zu befreien. Er riss an ihrem Haar, und sie wurde fast ohnmächtig vor Schmerz. »Pass auf«, sagte er mit eigenartig sanfter, ruhiger Stimme. »Wenn du dich wehrst, muss ich dir wehtun. Ich will dir nicht wehtun.«
    Sie sagte nichts. Sie hörte auf, sich zu wehren. Er trug sie mit dem Gesicht nach unten. Davon wurde ihr schwindelig, und sie schloss die Augen. Er lockerte den Griff in ihrem Haar, und Augenblicke später erreichten sie den Strand, den trockenen Sand. Er ließ sie auf ihren Hintern fallen, hielt ihr Haar aber weiter fest. Wenn sie den Kopf bewegte, wenn sie sich überhaupt irgendwie rührte, dann würde er ihr eine Handvoll Haare mitsamt Wurzeln ausreißen, das wusste sie.
    Rede mit ihm. Sollte man das nicht in solchen Situationen tun? Denk nach, Annie, benutz dein blödes Hirn. »Was … was wollen Sie?« Du musst mit ihm eine Beziehung eingehen. Dann fällt es ihm schwerer, dich zu töten.
    »Ich möchte, dass du aufstehst und wir den Strand entlanggehen.« Er legte ihr eine Handschelle um das Handgelenk, das andere Ende hing an seinem Handgelenk.
    Annie bemerkte, dass er den Gips nicht mehr am Arm hatte. »Ist meine Mutter…«
    »Sie lebt.«
    »Der Gips war falsch.«
    »Ja.«
    »Um uns reinzulegen.«
    »Damit ich nicht bedrohlich wirke.«
    »Ted Bundy hat das so gemacht.«
    »Da hast du recht.« Er klang überrascht. »Du bist ein kluges Mädchen. Ich wette, du hast bloß Einsen in der Schule.«
    »Ich bin in der Begabtenförderung.«
    »Ich wusste, dass du intelligent bist.«
    »Woher zum Teufel sollten Sie das wissen?«
    »Fluche nicht.«
    Härte in seiner Stimme. Das machte ihr Angst.
    »Ich mag es nicht, wenn Kinder fluchen. Das ist die erste Regel.«
    Regel? Was sollte das heißen? Bring ihn dazu weiterzureden. Sie würde ihn weiterreden lassen und auf eine Gelegenheit warten, ihn in die Eier zu treten. »Okay.« Sie würde ihm genau das sagen, was er hören wollte. »Woher wissen Sie, ob ich intelligent oder blöd bin?«
    »Ich habe dich beobachtet.«
    Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Denk nicht darüber nach. Aber schon während sie das dachte, durchzuckte es sie. Wann hatte er sie beobachtet? Wann? Als

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