Die Spur der verlorenen Kinder
denken. An die Reise zurück durch den Korridor. Jede Reise wurde schwieriger und körperlich anstrengender.
Er trug Annie über den Sand auf sein Boot zu, er fand es schade, dass er sie hatte chloroformieren müssen. Er hatte gehofft, sie würde bereitwilliger sein, würde die Situation akzeptieren. Aber vielleicht war gerade dieses Störrische gut für ihr Überleben nach der Reise durch den Korridor. Er hoffte es. Von den vier Kindern, die er bislang geholt hatte, hatte nur eines überlebt.
Wheaton ließ Annie vorsichtig in den Sand gleiten, dann legte er ihr das Stofftuch auf Nase und Mund, damit sie nicht aufwachte, und schließlich nahm er das Handy ihrer Mutter und warf es ins Wasser. »Klingel doch«, murmelte er und überlegte, ob er dasselbe mit der Kamera tun sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie hatten keine Fotos von ihm gemacht, und vielleicht würden die letzten Bilder von Annie, wie sie Spaß am Strand hatte, Mira und ihrer Großmutter in den vor ihnen liegenden Tagen wenigstens ein bisschen Trost bieten. Er war schließlich nicht ganz gefühllos.
Er zog ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und öffnete mit seiner Hilfe den Deckel der Kühlbox. Es war nicht mehr viel übrig, ein paar Äpfel, mehrere Flaschen Wasser, ein Sandwich in einer Plastiktüte. Er stopfte einen Apfel in eine Tasche seiner Shorts und trank eine halbe Flasche Wasser. Den Rest spritzte er sich ins Gesicht, dann drehte er die Flasche in den Sand und wischte seine Fingerabdrücke ab. Sollten die Bullen doch sehen, was sie damit anfingen.
Das letzte Licht klammerte sich an den Himmel im Westen und ließ ihn taubengrau mit gelben Streifen erscheinen. Er musste los. Er nahm das Mädchen, auf dessen Nase und Mund noch der Lappen lag, und eilte den Strand entlang zu seinem Boot. Er war nichts besonderes, sein kleines Gefährt, aber genau das war der Sinn. Große Boote erregten Aufmerksamkeit. Der Motor allerdings war leistungsstark und neu und würde ihn dorthin bringen, wohin er wollte.
Die vielen Monate der Planung hatten sich ausgezahlt, er hatte, wofür er gekommen war. Monatelang hatte er sie beobachtet, in der Schule, beim Radfahren, im Buchladen, wie sie Bücher wegsortierte, Kunden half. Er hatte sie in vielen Verkleidungen im Auge behalten – als Mann mit dunklem Haar, grauem Haar, blondem Haar, mit Bart und ohne, mit und ohne Brille. Er kannte ihren Stundenplan, und da Ferien waren, wusste er auch, wie sie ihre Freizeit verbrachte. Er hatte herausgefunden, dass sie nicht viele Freunde hatte, dass sie meist allein blieb.
Außerdem leistete diese Annie Morales auf ihre Art Widerstand, sie verzichtete auf die übliche Mode zugunsten von Shorts oder Jeans, die sie zu Sandalen und Baumwollhemden trug. Unabhängig. Und obwohl keine dieser Eigenschaften ihr Überleben sichern würde, verhalfen ihr alle zu einem Vorteil, den sie brauchen würde, und aufgrund dessen sie seiner Bemühungen wert war.
Obwohl mehrere Wochen Feinarbeit vor ihm lagen und er vorsichtig sein musste, war dies ein ausgezeichneter Anfang.
Er legte das Mädchen auf eine Decke, die er auf dem Boden des Bootes ausgebreitet hatte, und befestigte das andere Ende der Handschelle an dem Metallgriff an der inneren linken Bootswand. Wenn sie auf der Fahrt zu sich kam, was wahrscheinlich war, dann konnte sie mit einer einzelnen freien Hand nicht allzu viel Schaden anrichten. Aber vielleicht würde sie versuchen, nach ihm zu treten, also band er ihr die Knöchel zusammen und verknotete das Ende des Seiles an der Bank, auf der er sitzen würde. Er legte ihr keine Augenbinde an, entschied sich aber, sie zu knebeln. Er nahm den Chloroformlappen von ihrem Gesicht, ließ ihn in den Sand fallen, und zog dann ein Tütchen aus seiner Gesäßtasche, aus der er ein Taschentuch nahm. Er knotete es über ihren Mund und schob es zwischen ihre Lippen, fest, aber nicht zu eng.
Das Taschentuch war natürlich makellos sauber, gebleicht, gebügelt, versiegelt. Keimfrei. Es war so sauber, dass Wheaton nicht gezögert hätte, es sich selbst in den Mund zu stecken. Anders ging es nicht.
Er steckte ihr ein kleines Kissen unter den Kopf, damit sie es bequemer hatte. Die Kühlbox knapp hinter ihrem Kopf war fest im Boot verstaut, er musste sich also keine Sorgen machen, dass irgendetwas auf der Fahrt rutschte oder umfiel. Aber da der Scheitel ihres Kopfes dagegendrückte, schob er noch ein gefaltetes Handtuch zwischen sie und die Box. Er legte die Paddel längs ins Boot, an
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