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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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mir.
    Mira nahm eine kleine Kurskorrektur vor, und der Motor erstarb erneut, der Kompass weigerte sich zu leuchten. Sie neigte ihn, um das Sternenlicht einzufangen, und bemerkte plötzlich, dass da kein Sternenlicht mehr war. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah bloß Schwärze. Es war keine Wolkendecke, es roch nicht nach Regen. Sie sah keinen einzigen Stern, nicht einmal das blasse Geisterlicht, das auf einen Stern hindeutete. Diese Dunkelheit war absolut, als wäre sie, Mira, von einem Wal verschluckt worden.
    »Was zum Teufel ist hier los?« Sie drückte den Knopf der Taschenlampe, um sie einzuschalten, aber nichts geschah. »Streichhölzer, irgendwo hier drin habe ich Streichhölzer.«
    Sie wühlte in ihrem Rucksack, fand eine Schachtel, strich eines an. Die Flamme zündete, so ein kleines bisschen Licht. Sie starrte sie an, bis sie ihren Blick ausfüllte, ihren Kopf. Falsch, irgendetwas war ganz falsch. Die Flamme flackerte nicht, bewegte sich überhaupt nicht. Sie stand gerade und reglos, ein kleiner Soldat in Habachtstellung. Was war mit dem Wind? Es war doch vor Kurzem noch nicht windstill gewesen, oder?
    Mira hielt das Streichholz über die Wasseroberfläche, und das Licht fiel auf das Wasser. Es sah genauso vollkommen schwarz aus wie der Himmel. Angst überkam sie wieder, und Mira ließ das Streichholz fallen, nahm die Paddel vom Boden des Bootes, stieß sie ins Wasser. Sie wusste, dass sie noch Benzin hatte, was hieß, dass der Motor auf einem bestimmten Kurs funktioniert hatte. Wie weit war sie von diesem Kurs abgetrieben? Sie paddelte noch einen Augenblick, dann probierte sie die Taschenlampe aus. Sie ging an. Sie drückte den Startknopf des Motors, und der erwachte dröhnend zum Leben.
    Sie schaute auf den Kompass – 81W0509, 24N5009. Der Motor hatte funktioniert, als beide Koordinaten mit 08 endeten, und jetzt lief er bei 09. Sie hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, wenn es überhaupt etwas zu bedeuten hatte, ging aber davon aus, wenn sie in diesem Koordinatenbereich bliebe, könnte sie es schaffen, von hier wegzukommen.
    Wo auch immer hier war.
    Fahr weiter.
    Die Luft fühlte sich jetzt drückend heiß an, schwer, kein Windhauch. Aber sie konnte spüren, wie die Strömung stärker wurde, und sie überprüfte die Richtung, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder vom Kurs abkam. In ihren Ohren begann es zu klingeln, dann folgte ein hartes, gnadenloses Klopfen, das aus ihrem Nacken aufwärtswanderte und über ihren Kopf hinwegdrang. Ein lärmender Schmerz formte sich in ihrem Hinterkopf. Ihre Knochen verwandelten sich in Gummi, die Sohlen ihrer Füße fühlten sich an, als steckten sie in heißem Teer.
    Eine Flutwelle des Schmerzes raste durch ihren Körper. Ihre Haut spannte sich und drückte gegen ihr Skelett, als wollte sie die Knochen zerbrechen, pulverisieren, und dann fühlte sie sich, als würde sie bei lebendigem Leib gehäutet, als würde die Haut mit einer scharfen, heißen Klinge abgezogen. Der Schmerz ließ sie in die Knie gehen, das Boot zuckte abrupt nach links, nach rechts, dann wieder nach links. Wasser schwappte ins Boot. Sie versuchte, nach dem Steuer zu greifen, aber ihre Arme ließen sich nicht bewegen. Die Luft umschlang sie wie nasses Leder und klebte jetzt an ihrer Stirn und auf ihrer Nase und ihrem Mund, nahm ihr den Atem.
    Jedes Mal, wenn sie versuchte, Luft zu holen, sog sie dieses unsichtbare Ding, das ihren Mund und ihre Nase bedeckte, in ihre Atemwege. Und als es keine Luft mehr zum Atmen gab, versank sie wie ein Stein in der Dunkelheit.

Vier
    Tick-tack. Tick-tack-tock. Tick.
    Für Wayne Sheppard klang die Art-déco-Wanduhr wie der Anfang eines Märchenreims der Gebrüder Grimm, der schlimm enden würde. Vor allem missfiel ihm das letzte Tick am Ende, das einfach bloß in der Luft hing und abwartete. Es war 20:17 Uhr. In dreizehn Minuten würde es dunkel sein.
    Laut der Zeitangabe im Protokoll seines Handys hatte er vor etwa eineinhalb Stunden mit Mira gesprochen. Er wusste, dass sie nachts nicht gern auf dem Wasser war und dass sie vorgehabt hatte, früh genug zu fahren, um vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Aber weder sie noch Annie waren bisher zur Tür hereingekommen.
    Er stieß sich vom Küchentisch ab, wobei er sich der Tatsache bewusst war, dass Nadine immer noch nebenan telefonierte, sie rief jeden an, den sie kannte, um in Erfahrung zu bringen, ob jemand Mira gesehen hatte. Er wusste bereits, dass ihre Bemühungen sinnlos waren. Mira hätte

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