Die Spur der verlorenen Kinder
beinahe ihre Beziehung zerbrechen lassen. Seit sie hergezogen waren, ging es ihnen gut. Außer bei diesem einen schwierigen Thema.
Lass uns heiraten, Mira.
Bist du nicht glücklich damit, wie es jetzt ist, Shep?
Natürlich bin ich glücklich. Aber ich wäre noch glücklicher, wenn wir verheiratet wären.
Es ist so kompliziert. Nadine würde darauf bestehen, woanders zu leben. Wir müssten beide Häuser verkaufen und uns ein größeres suchen …
Und so weiter und so weiter. Eine endlose Litanei an Kleinigkeiten, die dazu führte, dass er am Ende erschöpft war und es bereute, das Thema überhaupt angesprochen zu haben.
»Niemand hat sie gesehen, und ihr Handy ist entweder kaputt oder ausgeschaltet«, sagte Nadine, als sie in die Küche zurückkehrte. Sie wickelte die Enden ihrer langen ergrauten Haare um ihre Finger, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war, dann schob sie das Haar hoch und fixierte es in ihrem Nacken. »Irgendetwas ist ihr zugestoßen, Shep.«
Er widersprach nicht. »Ich besorge uns ein Wasserflugzeug.« Das war schneller als ein Boot, und sie konnten von oben mehr sehen. Er rief John Gutierrez zu Hause an. Goot war der Erste, den Sheppard für die Außenstelle des FBI auf Tango Key angeheuert hatte, ein dreiunddreißigjähriger Kuba-Amerikaner mit dem Instinkt eines Jägers und einem Händchen für genau die Art Fälle, die sie zugewiesen bekamen. »Hey, Mann, ich bin’s. Wie schnell kannst du uns ein Wasserflugzeug besorgen?«
»Fünf Minuten. Warum?«
Sheppard erklärte schnell, was los war.
»Wir treffen uns am Tango Sea and Air, so schnell du da sein kannst. Hey, sollten wir die Polizei vor Ort verständigen?«
»Noch nicht«, entgegnete Sheppard. »Wir wissen noch nicht, was geschehen ist.«
»Ja, ich bin sicher, es ist etwas ganz Einfaches. Abgesoffener Motor, Handyakku leer, du weißt ja, wie es läuft. Nadine soll alle Anrufe auf ein Handy weiterleiten.«
»Wir sehen uns gleich.«
Etwas Einfaches.
1997 hatte ein zwölfjähriger Junge namens Rusty Everett auf Marathon von den Middle Keys die Schule um 15:00 Uhr verlassen und war wie immer nach Hause gegangen, wurde aber nie wieder gesehen. Kein Erpresserbrief, keine Leiche, überhaupt keine Spur von ihm. Das Einzige, was man am Rand des Weges fand, den er normalerweise ging, war ein Stückchen Stoff, das mit Chloroform durchtränkt war.
Zwei Jahre später, auf Key Largo von den Upper Keys, spielte ein elfjähriges Mädchen, Becky Sawyer, in ihrer Nachbarschaft und verschwand. Kein Erpresserschreiben, keine Leiche, keine Spur. Das einzige Beweisstück waren einer ihrer Schuhe und ein Lappen, der in Chloroform getränkt war.
Vor sechs Wochen war ein weiteres Kind verschwunden, ein neun Jahre alter Latino-Junge, der auf Tango Key lebte, aber auf Sugarloaf Key von den Lower Keys entführt wurde, wo seine Mutter als Hausmädchen arbeitete. Gleicher Tathergang – nichts außer dem Stofflappen.
Bisher hatten Sheppard und Goot keine Verdächtigen. John Walsh hatte die Geschichten in seiner Fernsehsendung präsentiert, mit computergenerierten Bildern aus dem Labor der Spurensicherung, die zeigten, wie Rusty Everett und Becky Sawyer jetzt aussehen könnten. Selbst das hatte nicht zu einem einzigen brauchbaren Hinweis geführt.
Etwas Einfaches. Klar.
»Ich komme mit«, sagte Nadine und hängte sich ihre Handtasche um. »Ich kann dir helfen, Shep.« Sie zog eine Schublade auf und nahm eine Karte heraus. »Ich kann Dinge auf einer Karte finden, die andere Menschen nicht sehen können.«
»Ich bin schon ein Fan, Nadine. Du musst mich nicht überzeugen.«
Sie lächelte darüber, ein schnelles, fröhliches Aufblitzen ihrer Augen, das ihn an Mira erinnerte. »Ich bin froh, dass wir uns auch einmal einig sind.«
Sie schrieb Mira einen Zettel, bloß falls Annie und sie in der Zwischenzeit zurückkämen, schaltete die Anrufe weiter auf ihr Handy, steckte es ein. Trotz der Tatsache, dass Nadine schon in den Achtzigern war, bewegte sie sich mit der Behändigkeit einer viel jüngeren Frau. Sie behauptete, dass mehrere Jahrzehnte Yoga ihren Körper flexibel und fit gehalten hatten, aber Sheppard vermutete, dass gute Gene auch ihren Teil beitrugen. Sie hatte zwei Ehemänner überlebt, und zwei ihrer fünf Kinder. Abgesehen von Mira waren ihre Kinder und Enkelkinder über die USA verstreut, und es schien nicht sonderlich viel Kontakt unter ihnen zu bestehen. Mira war ihre älteste Enkelin, und seit ihrer frühesten Kindheit, bestand eine
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