Die Spur des Boesen
sich das oberste Bild ansahen, vielleicht sechzig mal sechzig Zentimeter groß, stockte ihnen der Atem. Mit offenem Mund blickten sie darauf, bis Dougherty den Bann brach.
»Das ist so durchgeknallt, da fehlen mir die Worte«, sagte sie.
Einige der Zeichnungen waren so simpel, als stammten sie von einem viel jüngeren Kind. Strichzeichnungen. Die Linien hingeschleudert und kräftig. Ein brennendes Haus, umgeben von gelber und oranger Farbe. Aus einem der oberen Fenster die Buchstaben EEEEOOOOOW. Im Vordergrund ein Mädchen und ein Junge, die sich an den Händen hielten, den Blick gelassen auf das Feuer gerichtet. Über ihnen zwei Engel, die in den Himmel stiegen.
Der Rest des Bildes wurde von Gräbern und Grabsteinen eingenommen. Fünf Stück. Ruhe in Frieden. Die Toten lagen auf den Gräbern. Durchgestrichene Augen. Vier Männer und eine Frau. Das war ziemlich gut zu erkennen, weil die Zeichnungen an den entsprechenden Stellen realistischer gehalten waren — selbst im Tod hatten die Männer riesige, erigierte, nach oben gerichtete Schwänze mit roten Spitzen. Die lebendige Darstellung vermittelte dem Betrachter den Eindruck, diese angeschwollenen Dinger vibrierten sogar.
Dougherty zog das obere Bild vom Stapel. Dann das nächste. Und wieder das nächste. Sieben insgesamt. Fast alle ähnel-ten dem ersten. Leichen, aufsteigende Engel und riesige Schwänze. Außer auf den letzten. Auf diesen wurde es erst richtig abstoßend: Die männlichen Figuren erhoben sich aus ihren Gräbern und gebrauchten ihre riesigen Anhängsel auf überraschend vielfältige Weise an der weiblichen Figur. Corso blätterte die Seiten wieder um. Oben auf der dritten Zeichnung stand in roter Farbe das Wort »S'VILLE«. Am rechten Rand der letzten Zeichnung zog sich von oben nach unten eine Reihe von Zahlen hin: 10 12 4.
Rasch faltete Dougherty die Bilder wieder zusammen und schob sie in den Ordner. Dann zuckten ihre Hände zurück, als hätte sie sich daran die Finger verbrannt.
»Ich will diese Dinger nicht mehr sehen.« Sie legte ihre Arme um sich. »Da dreht sich einem ja der Magen um.«
»Kaum zu glauben, dass bei diesen Bildern niemand darauf gekommen ist, dass sich bei dem Mädchen ein Problem zusammenbraut. Hätte dem armen Therapeuten den Job retten können.«
»Typisch Katholen«, schimpfte Dougherty. »Einfach unter den Teppich kehren. Niemals was zugeben. Sich freikaufen, wenn nötig. Einfach die pädophilen Priester von einer Gemeinde in die andere versetzen, wo sie sich weiter Jahr um Jahr an Kindern vergreifen, weil sich alle mehr Sorgen um das eigene Ansehen als um die Kinder machen.«
Corso warf einen Blick auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch zwischen den Betten. Einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig. »Hast du Hunger?«, fragte er.
»Nein«, schnauzte sie. »Doch«, änderte sie rasch ihre Meinung.
Corso wählte die zweiundzwanzig.
»Zimmerservice.«
Ruckartig setzte sich Corso auf. Einen Moment lang hatte er keinen blassen Schimmer, wo er war. Erst als er das Rascheln der Bettwäsche hörte und die Umrisse von Meg Dougherty erkannte, die sich im Schlaf umdrehte, erinnerte er sich. Das Hilton. Allentown in Pennsylvania. Er sah auf den Wecker: Ein Uhr eins zu nachtschlafender Zeit. Er schwang die Beine aus dem Bett und flüsterte die Uhrzeit vor sich her wie eine Litanei. Und wie aus heiterem Himmel überkam es ihn. Eine Stimme in seinem Kopf fragte: »Könnte es nicht eine Postleitzahl sein?« Verwirrt schloss er die Augen und ließ sich zurück aufs Bett sinken. Dann schaltete er das Licht ein. Dougherty drehte sich auf die Seite und verzog, vom Licht geblendet, das Gesicht. Er griff zum Telefon und wählte die Null.
»Rezeption.« Weibliche Stimme. Unter dreißig. Leichter Akzent.
»Können Sie mir einen Gefallen tun?«
»Was für einen Gefallen, Sir?«
»Ihr habt doch da unten einen Computer, oder?«
»Ja, Sir.«
»Sind Sie im Internet?«
»Ja, Sir.«
»Ich habe eine Postleitzahl. Ich möchte wissen, zu welchem Ort sie gehört.«
Sie seufzte. »Sir... ich weiß nicht so recht... um diese Uhrzeit...«
»Wie heißen Sie?«, erkundigte sich Corso.
Er spürte, dass sie sich nicht wohl dabei fühlte. »Denise«, antwortete sie schließlich.
»Ich sag' Ihnen was, Denise. Wenn Sie rausfinden, zu welchem Ort die Postleitzahl gehört, kriegen Sie von mir einen Hunderter. Wie klingt das?«
»Wie lautet die Nummer, Sir?«
Er nannte sie ihr. Dauerte neun Minuten, bevor es an der Tür klopfte. Denise war eine
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