Die Spur des Boesen
war, dass sie davongelaufen ist.«
»Meine Schwester betrachtet die Welt durch eine rosarote Brille«, machte Agnes deutlich.
»Ist denn etwas Mitgefühl so verkehrt?«, fragte sie.
»Wenn es unangebracht ist, ja.«
»Also«, unterbrach Corso das Geplänkel. »Weil die
Schwester so alt war. Weil sie schon öfter das Geld verlegt hatte.« Er zögerte. »Einige von Ihnen haben nicht geglaubt, dass es unbedingt eine Verbindung zwischen dem Tod von Schwester Alice Ignatius, dem fehlenden Geld und dem plötzlichen Verschwinden von Mary Anne Moody gab.«
»Glauben Sie's oder nicht«, meinte Agnes.
Schwester Veronica setzte sich die Brille wieder auf. »Im Nachhinein sieht man häufig alles durch eine andere Brille, Schwester«, erwiderte sie im Singsangton. »Heute hört sich das vielleicht dumm an, aber...« Sie suchte nach Worten.
»Hat sie irgendwas zurückgelassen?«
»Schwester Alice Ignatius?«, fragte Veronica.
Agnes verdrehte die Augen. »Er meint das Mädchen, Schwester.«
Veronica schüttelte traurig den Kopf. »Nein«, antwortete sie.
»Doch, doch«, widersprach Agnes. »Das hat sie.«
15
Dougherty warf ihre Tasche auf das zweite Bett am anderen Ende des Zimmers. Schaute sich um und seufzte. »Drehe ich jetzt langsam durch, oder sehen diese blöden Hotelzimmer tatsächlich alle gleich aus?«
Corso zuckte mit den Schultern. »Ich nehme sie schon gar nicht mehr wahr«, erwiderte er. Er klappte den Gepäckständer auf und legte seine Reisetasche darauf. »Die Schwestern waren echt eine Reise wert«, meinte er.
»Ja, absolut«, stimmte Dougherty zu. »Da fragt man sich doch, warum sich jemand für ein solches Leben entscheidet.«
Corso zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf. »Das habe ich mal eine alte Frau gefragt, die bei den Shakern war. Warum sie ein Leben im Zölibat und in religiöser Hingabe statt eines Lebens in der normalen Welt gewählt hat.«
»Was hat sie geantwortet?« Dougherty stopfte Kleider in die Schubladen der Kommode. Auch wenn sie nur für eine Nacht bleiben wollten, packte sie immer alles aus. Corso lebte immer nur aus dem Koffer.
»Sie meinte, sie hätte die gleichen Wünsche wie alle anderen auch. Wollte Kinder und eine Familie und diesen ganzen Mist.«
»Ja?«
»Meinte, sie hätte auch den Wunsch, Gott näher zu sein. Ihr Leben lieber dem Geist und nicht dem Körper zu wid-men. Sie hat erzählt, sie hätte sich nie ganz entschieden. Nur immer gewusst, dass sie beides gleichzeitig nicht auf die Reihe bekommen würde. Und dass sie sogar damals, als ich mich mit ihr unterhalten habe, also nach sechzig Jahren, immer noch nicht sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben... sicher war nur, dass sie gezwungen worden war, eine Entscheidung zu treffen.«
»So was wie Sophies's Choice, was?«
Corso kicherte. »So was in der Art«, antwortete er. Dann zog er den Schnellhefter unter seinem Arm hervor, der mit einem Gummiband verschlossen war. Diesen warf er aufs Bett, bevor er ins Bad ging. »Fang nicht ohne mich an«, verlangte er. »Ich bin gleich wieder da.«
Dougherty zog sich immer um, sobald sie irgendwo ankam. Corso schlief gewöhnlich ein, ohne sich auch nur die Stiefel ausgezogen zu haben. Als Dougherty in ihren schwarzen Trainingsanzug schlüpfte, wurde im Badezimmer das Wasser aufgedreht. Das erinnerte sie daran, wie schnell sich Schwester Veronica am Spülbecken zu schaffen gemacht hatte, sobald das Gespräch auf Mary Anne Moodys Zeichnungen gekommen war, und wie die beiden das einzige Mal an diesem Abend einer Meinung gewesen waren, dass sich Corso und Dougherty die Zeichnungen, die Schwester Agnes geholt hatte, in aller Ruhe woanders anschauen sollten. Mit Betonung auf woanders.
Corso trocknete sich das Gesicht mit einem kleinen, weißen Handtuch ab, als er aus dem Badezimmer zurückkam. Er trat neben Dougherty. »Was auch immer da drin ist, die guten Schwestern wollten nicht dabei sein, wenn wir den Ordner aufmachen«, stellte er fest.
»Willst du die ehrenvolle Aufgabe übernehmen?«, fragte Dougherty.
»Mach ruhig«, forderte er sie auf.
Mit langsamen Bewegungen schob sie das Gummiband von der Ecke, als würde der Ordner gleich in die Luft fliegen. Nur mit den Fingerspitzen hob sie den Deckel. Corso spähte über ihre Schulter. Im Ordner lagen etwa ein halbes Dutzend grober Blätter, die zweimal zusammengefaltet waren. Dougherty verteilte sie auf dem Bett, faltete sie auf und sortierte sie wieder gleichmäßig auf einen Stapel. Als sie
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