Die Spur des Boesen
faszinierend fand, weil sie sich schuldig fühlte, wie es Überlebende oft tun, wenn sie nach einer Tragödie als einziges Familienmitglied überleben. Und in krankhafter Weise identifizierte sie sich mit diesem gleichaltrigen Mädchen, das einen Frieden gefunden hatte, der ihr bisher vorenthalten war. Das war die Fraktion der positiv Denkenden.
Die eher weltlichen Vertreter, unter anderem auch Agnes, hatten das Verhalten des Mädchens als Vorbote eines bewegten, gottlosen Lebens gesehen und verlangt, es in psychologische Behandlung zu geben. Schon bei der bloßen Erwähnung eines gewissen Dr. William Harkens, eines Amtsarztes vom psychologischen Dienst, liefen beide Schwestern rot im Gesicht an.
»Er war ein junger Mann und sah ziemlich gut aus.« Während bei Veronica die Worte wie eine Entschuldigung klangen, schüttelte Agnes den Kopf. »Was er war, Schwester« — sie machte eine Pause, um die Wirkung zu steigern — »was er war.. . war er ohne seine Hose.«
Und wieder hingen die Tatsachen der Geschichte fast vollständig von der Einstellung der Erzähler ab. Einige glaubten, der junge Psychologe habe versucht, die junge Frau sexuell zu belästigen. Diese Theorie fußte auf der Tatsache, dass er darauf bestanden hatte, während der Therapiesitzungen mit Mary Anne alleine zu sein. Doch als Schwester Ellen einmal seltsame Geräusche aus Vater Jonathans Büro hörte, stürmte sie hinein und fand Mary Anne Moody und ihren Therapeuten in einem Zustand, den sie später als »in spürbarer sexueller Anspannung und teilweises unbekleidet« beschrieb.
Dr. Harkens behauptete, Opfer eines gezielten sexuellen
Angriffs seitens der jungen Frau geworden zu sein, die er als äußerst wollüstig beschrieb und die sich für ein Mädchen ihres Alters in Dingen der Leidenschaft ungewöhnlich gut auskenne. Es muss nicht erwähnt werden, dass die Sitzungen ein abruptes Ende fanden und der Arzt unverzüglich seines Postens enthoben wurde.
»Und so endete alles?«, fragte Dougherty.
»Die Ereignisse überschlugen sich«, antwortete Veronica.
»Es war Mary Anne Moody, die sich überschlug«, korrigierte ihre Schwester sie.
So, wie Schwester Agnes die Geschichte erzählt hatte, schien alles nach Plan gelaufen zu sein. Damals wurde am Freitagabend im Erdgeschoss des Pfarrhauses Bingo gespielt. Es herrschte Hochbetrieb, und die Absicht war, beträchtliche Gewinne einzuheimsen. Das Geld wurde Schwester Alice Ignatius anvertraut, die damals schon weit über achtzig war und es bis zum darauf folgenden Montag in ihrem Zimmer verstecken sollte, bis die Bank öffnete. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters hatte sich Schwester Alice Ignatius bereits mehrfach nicht erinnern können, wo sie das Geld hingetan hatte. Da das kleine Zimmer nur begrenzte Versteckmöglichkeiten bot, sorgten die jüngeren Schwestern stets dafür, dass das Geld rasch wieder auftauchte und Schwester Alice Ignatius in Dankestränen ausbrach.
»Das erzähle ich Ihnen alles, damit Sie verstehen, warum einige von uns etwas dagegen hatten, die Polizei einzuschalten.«
»Sie meint mich«, fügte Veronica hinzu.
»Eines Samstagmorgens haben wir sie tot aufgefunden«, erzählte Agnes weiter. »Am Fuß der Treppe zum Erdgeschoss.« Sie schluckte schwer. »Sie hatte sich das Genick gebrochen.«
Corso erstarrte. »Und das Bingo-Geld?«
»Wurde nie gefunden«, antwortete Agnes.
»Über wie viel Geld reden wir?«
»Fünftausenddreihundert Dollar.«
Die Schwestern wechselten einen raschen Blick.
»Was noch?«, fragte Dougherty.
Schwester Agnes holte tief Luft und wappnete sich. »Schwester Alice Ignatius wurde in einer sehr kompromittierenden Stellung gefunden.«
»Sie könnte auch so am Fuß der Treppe gelandet sein«, meldete sich Veronica zu Wort.
»Nicht in einer Million Jahren«, widersprach ihre Schwester.
»Was hat die Polizei dazu gesagt?«
»Oh... wir haben sie nicht so liegen lassen«, antwortete Veronica. »Das konnten wir nicht. Wir...«
»Und das Mädchen?«
»Verschwunden.«
Corso verstand die Welt nicht mehr. Er blickte zu Veronica. Sie hatte ihre Brille abgenommen und putzte sie mit einem Papierhandtuch.
»Schwester Alice Ignatius war schon sehr alt«, erklärte sie. »Wir dachten, dass vielleicht Mary Anne die Leiche gefunden hatte oder sogar dabei war, als Schwester Alice Ignatius gestürzt war. Wir dachten« — sie wedelte mit der Hand — »nachdem sie ihre Familie und alles verloren hatte ... dass sie von dem Ereignis so traumatisiert
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